Weihnachtsgeschichte: Die Nacht auf dem Eis

Das letzte licht des Tages versank in einer lautlosen winterlichen Dämmerung, als Nachbar Hans, der Forstgehilfe, den kurzen Steilhang an den See hinabschritt. Er war der jüngste angestellte in diesem Gebiet der großen Staatsforste, aber er besaß viel Ehrgeiz in seinem Beruf. Dieser war auch die Ursache, dass er heute den letzten Bus nach hause versäumt hatte.

an der Südseite des lang hin von Westen nach Osten gestreckten Sees reichte der Wald bis an sein Ufer hinab. Das bewohnte Land lag jenseits im Norden. Neun Kilometer zog er sich hin, − ein Hindernis für Hans, der nun vier Stunden Fußmarsch um den See vor sich hatte.

Da war sein Blick auf das blanke Eis gefallen. in den letzten tagen waren Holz- Arbeiter bereits auf ihm herüber gekommen, − das war doch der kürzeste Weg nach hause!

Hans schritt zu dem einsamen Fischerhaus hinab. Der alte Fischer trat aus der Tür und blickte misstrauisch auf den Fremden. „hier ist der Weg zu Ende! Wohin wollen sie gehen?“, fragte er. Hans wies auf das Eis. „Dort hinüber! ich habe den Bus versäumt!“ Der Fischer schüttelte den Kopf. „Doch nicht jetzt in der Nacht!“
„Warum nicht? − Bei dieser guten Sicht“, entgegnete Hans. im abendlichen Dämmer verschwimmend, konnte er blass das jenseitige Ufer erkennen. „ich würde es nicht raten!“, schüttelte der Fischer den Kopf. „in der Nacht täuscht auch die Sicht, − drüben mündet ein Bach in den See, dort ist das Eis noch offen!“ Hans schritt schon aus. „ich bleibe weit vom Bach abseits!“

„Warten sie noch ein wenig, ich gebe ihnen etwas mit!“, hielt ihn der Fischer zurück. als er wieder aus dem hause kam, trug er eine Mütze voll kleiner Kieselsteine bei sich. „Ein altes Mittel von mir! ich rolle die Steine übers Eis und erkenne am Klang, ob es auch hält!“ Hans dankte und trat auf das blanke, von Millionen Raureifblüten bedeckte Eis hinaus. Jeder schritt gab einen kurzen, harten Klang.
Während der tritt seiner Stiefel auf den See hinaus verklang, versank hinter ihm das Ufer in Dämmer und Nacht. Der See lag da wie unter mattem Glas. allmählich erlosch in seinem Spiegel der Schimmer der Sterne. Ein rauer, kalter Nebelschleier fiel von den höhen herab. Der hall seiner Tritte verlor sich in dem grauen Dunst und klang gedämpft.

hans pfiff halblaut vor sich hin und begann sich schon des Gewinns von drei Wegstunden zu freuen, weil er das Eis gewählt hatte. Da dröhnte plötzlich ein drohender ton auf. Unter der Decke des Eises lief ein Rollen dahin. Es bebte heran und nahe an Hans vorbei, − er spürte ein Knistern unter seinen Füßen. ihn befiel ein leises Unbehagen. Unvermittelt war dichter, regungsloser Nebel eingefallen. Die leuchtende Taschenlampe schnitt einen düsteren Lichtkegel in die plötzlich zunehmende Finsternis. als hans wieder ausschreiten wollte, durcheiste ihn eine jähe Erkenntnis: Er wusste die Richtung nicht mehr, aus der er gekommen war. Zweifel befiel ihn, wohin er sich wenden sollte. hatte nicht der Fischer von einer offenen Bachmündung erzählt? Das Ufer war also nicht überall ohne Gefahr zu erreichen. Er erinnerte sich an Geschichten von Ertrunkenen in offenen Wasserbuchten.

Er schritt weiter aus in der Richtung, die er für die sicherste hielt. Die Wände des Nebels standen wie Mauern um ihn und den schwachen schein seiner Taschenlampe. Hans begann, seine Schritte zu zählen, damit er ein Maß der Seeweite gewann. als das erste tausend voll war, hielt er an. Er nahm Kiesel aus der Tasche, die ihm der alte Fischer gegeben hatte. Klirrend rollte der erste stein in das Dunkel hinaus. Aber der rollende laut verlor sich irgendwo weit draußen, ohne dass der Klang von Gefahr gekündet hätte.

Nach abermals tausend schritten nahm ein hellerer ton des Eises überhand. hans fühlte, dass er dem Ufer nahe war. Empfingen ihn dort der Strand, Weiden und dünnes Schilf − oder mündete vor ihm einer der Waldbäche in den See? − Ein neuer stein glitt hinaus. heller klang nun sein Rollen − heller und höher − dann ein leises Klatschen in offenes Wasser.

Hans’ Blick wurde starr: Er wandte sich rasch um, trat unwillkürlich behutsamer auf. in einem spitzen Winkel schritt er gegen die offene Weite des Sees hinaus und zählte wieder, einhundert, zweihundert schritte. in dem Eis unter seinen Füßen rollte es härter. Das war ein Zeichen, dass er wieder der sicheren Mitte des Sees zuschritt.
längst hatte er jede Orientierung verloren. stumm tappte er hinein in eine endlose, kalte leere. hans hätte nun längst das Seeufer erreichen müssen. Er entsann sich, dass ein Mensch ohne ziel niemals geradeaus ging, sondern stets in einem großen Kreis lief. „Gerate ich noch einmal vor die Bachmündung?“, fragte er sich entsetzt. Er hielt an und schrie: „Hallo! Hallooo!“ Doch der Ruf versank ohne hall in den Nebeltiefen.

Plötzlich fühlte er, dass ihm die angst kalt im Rücken saß. Er wanderte weiter über das Eis, doch sein schritt wurde zögernder. Ein Stein um den anderen verrollte vor ihm, bald härter, bald heller und unheildrohend. Mitternacht war schon vorbei, als ihn eine Müdigkeit befiel, die unerträglich wurde. „ich gehe im Kreis!“, stöhnte er. Ein unbezähmbarer Drang befiel ihn, sich hinzustrecken und zu schlafen. Es konnte nichts herrlicheres geben als Ruhe, nur Ruhe!

Jäh brüllte das pressende Eis unter ihm. In der Nähe klirrten Schollen übereinander. Er tappte entsetzt weiter. hatte er im Gehen geschlafen? „ich will nicht erfrieren!“, murmelte er mit bebenden Lippen. Er musste gehen, gehen, gehen − bis der Morgen kam!

Hans schritt von nun an hundert schritte vor, hundert zurück. Er tat dies so lange, bis ein fahler Dämmer den neuen Tag ankündigte. Ein Lufthauch fiel in die Nebelwände. sie wallten auf, wogten hin und her und hoben sich allmählich. Dort draußen tauchte jetzt das Ufer auf. Hans schluckte und fühlte ein Brennen in seinen Augen.
Als das Sandgeröll des Uferstreifens unter seinem tritt aufknirschte, wandte er sich unendlich erleichtert noch einmal um. Dort draußen hatte er das härteste Abenteuer seines Lebens bestanden!

Information zu Autor und Buch

Franz Braumann

Geboren 1910 als zweites Kind der Augerbauersleute Paul und Maria Braumann. Der gelernte Zimmermann beginnt, Gedichte und Erzählungen zu schreiben. Dann folgt der Besuch der Lehrerbildungsanstalt in Salzburg. Neben der Unterrichtstätigkeit in Oberndorf, Straßwalchen, Köstendorf ist er als Schriftsteller tätig. 1958 erhielt er den Österreichischen Staatspreis für Jugendliteratur. Sein Lebenswerk umfasst an die 100 Werke, das mit einer Reihe von „Sagenreisen“ abgerundet wird. Der Heimatdichter verstarb 93-jährig infolge eines Unfalles in seinem Obstgarten.

Informationen zum Buch

ISBN: 978-3-7025-0638-4
Umfang: 304 Seiten
Preis: € 24,00

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