Karl Nehammer
"Rückführungen von Migranten schon vor der EU-Außengrenze"

Innenminister Karl Nehammer im Gespräch mit RMA-Chefredakteurin Maria Jelenko. | Foto: Markus Spitzauer
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Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) am Weltflüchtlingstag über Migration, Demos, Gewalt, Cyberkriminalität und Einbürgerungen. 

ÖSTERREICH. Im Interview mit RMA-Chefredakteurin Maria Jelenko gab der Innenminister Einblicke in die aktuell heißesten Themen seines Ressorts.

RMA:Wie wollen Sie im Sommer mit illegalen Versammlungen umgehen, um die Sicherheit der Teilnehmenden, von Zivilisten und der Polizei zu gewährleisten, ohne demokratische Grundrechte zu verletzen? Und haben Sie Verständnis für die vielen jungen Menschen, die über ein Jahr eingesperrt waren?

Karl Nehammer: Es braucht beides: einerseits die Partnerschaft mit den jungen Menschen. Sie sollen ruhig feiern und hinausgehen, das ist gut so. Aber es dürfen dabei nicht die Rechte Anderer verletzt werden. Es braucht Sicherheit, auch für Anrainer. Auf der anderen Seite geht es um das Zusammenwirken der kommunalen Verantwortlichen und der Polizei. Die Stadtverwaltungen und Gemeinden haben hier eine Vielzahl von Möglichkeiten die auch genutzt werden müssen. Es soll gar nicht zur Eskalation kommen, sondern das primäre Ziel ist Deeskalation. Die Polizei sucht zuerst den Dialog. Erst, wenn es nicht mehr geht, wie beim Vorfall im Resselpark (Anfang Juni am Wiener Karlsplatz, Anm.), braucht es ein energisches Durchgreifen. 

Während die Kriminalität während der Lockdowns auf einen historischen Tiefstand gesunken ist (28.500 Delikte im ersten Lockdown 2020 laut Statistik Austria, März/April 2019 waren es 43.000 Delikte, Anm.), ist die Internetkriminalität auf ein Rekordniveau gestiegen (36.000 Delikte 2020, 28.400 Delikte 2019). Bekommt die Polizei spezielle Ausbildungen?

Ja, es gibt mehrere Initiativen: In enger Kooperation mit Bürgerinnen und Bürgern wurde die Initiative "Gemeinsam Sicher" nach der Pandemie wieder gestartet. Dabei geht es um Aufklärung, was man tun kann, wenn etwas passiert. Dazu zählt auch die Sensibilisierung für die Erkennung und Handhabe bei Fake-Botschaften. Wir haben auch eine Kompetenzoffensive gestartet im Umgang mit derartigen Delikten, damit klar ist, wie mit Anzeigen umgegangen wird. Zudem ist eine Verdoppelung der Manpower für die operative Umsetzung vorgesehen. Internetkriminalität ist komplex und meist auch international. Über gesetzliche Rahmen werden auch Provider stärker gefordert, das heißt, sie müssen Hass-Botschaften sofort vom Netz nehmen. 

So hat sich die Kriminalität in Österreich während der Pandemie entwickelt. | Foto: Statistik Austria
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Die Cyberkriminalität steigt. | Foto: Statistik Austria

Wie stark ist der Zusammenhang zwischen Verschwörungstheoretikern und politisch Extremen?

Gemeinsam mit der Bundesstelle für Sektenfragen wurde eine Untersuchung veranlasst, aus der hervorgeht, dass Extreme versucht haben, die Stimmungslage für ihre politische Botschaften zu nutzen, wie etwa der altbekannte Neonazi Gottfried Küssel. In der rechtsextremen Szene wurden Coronademos als Jahrhundertchance bezeichnet, um die politische Öffentlichkeit zu erreichen. Wir nehmen das sehr ernst. Auf der anderen Seite führen Verschwörungstheorien zu Immunisierung gegen Moral- und Wertevorstellungen, das führt zu Legitimationen von Gewalt. 

Wie gehen Sie dagegen vor?

Dem Verfassungsschutz ist es etwa gelungen, eine "Telegramm"-Gruppe zu infiltrieren, in der sich rechtsextreme Verschwörungstheoretiker abgesprochen haben, Brandbomben zu bauen, um diese gegen die Polizei einzusetzen. Wir versuchen, an Informanten zu kommen. Verschlüsselte Nachrichten dürfen wir derzeit noch nicht infiltrieren. Das ist im Regierungsübereinkommen im Rahmen des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofs jedoch vorgesehen. Das Regierungsübereinkommen sieht dazu aber eine Lösung vor. Gespräche dazu stehen noch aus. 

Bei physischer Gewalt speziell an jungen Frauen hat Österreich laut EU-Grundrechteagentur eine der höchsten Raten in der EU (20 %), Stichwort Femizide. Welche Maßnahmen sehen Sie am dringlichsten, um Gewalt gegen Frauen zu verhindern? 

Das ist kein rein polizeiliches, sondern ein gesellschaftspolitisches Thema. Im Gewaltschutzpaket sind neben dem Innenministerium auch das Frauen- und das Justizministerium involviert. Wir haben aufgrund dieser dramatischen Serie das größte Budget gegen Gewaltschutz in der Geschichte der Republik geschnürt, Fallkonferenzen werden intensiviert und wir starten im September mit der "Täterarbeit," damit diese nicht rückfällig werden. Auch erhalten die Opferschutzeinrichtungen über das Frauen- und Justizministerium mehr Geld. Und das Sicherheitspolizeigesetz wird dahingehend geändert, dass bei getrennten Hauptwohnsitzen ein Annäherungs- und Betretungsverbot ausgesprochen werden kann. Das Allerwichtigste ist, dass Frauen, die sich bedroht fühlen, 133 anrufen. Dann erfolgt ein klar strukturierter Ablauf. Dabei gibt es ein nachhaltiges Konzept, wie Frauen mit Kindern geholfen wird. Viele Frauen haben Angst, nicht mehr in die Wohnung zurückkehren zu können, oder, dass ihre Kinder ein Problem bekommen. 

Trotzdem gilt Wien immer noch als eine der sichersten Städte weltweit. Das kommt in der Bevölkerung oft nicht so an.

Mit der Aktion "Gemeinsam Sicher" soll das subjektive Sicherheitsgefühl gestärkt werden. Die Gemeinden sowie die Bevölkerung werden hier eingebunden. Es braucht das Wissen, wie man sich selbst schützen und wohin man sich wenden kann. Zusätzlich geht es um bauliche Maßnahmen, damit die Sichtbarkeit verbessert wird, etwa in Parkanlagen. Durch polizeiliche Präsenz und Streifen soll das Sicherheitsgefühl zusätzlich gefördert werden. Und es braucht auch soziale Komponenten, wie etwa die Betreuungssituationen von Jugendlichen. Mit der Analyse der Kriminalitätsstatistik setzen wir jeweils Schwerpunkte.

Wird hier nicht auch Angst gemacht?

Man darf die Situation nicht verharmlosen. Das hohe Maß an Sicherheit hat auch einen hohen Preis, es ist nicht selbstverständlich und kein statischer Zustand. Über 30.000 Uniformierte sind 24 Stunden, sieben Tage die Woche, im Einsatz. Jährlich werden rund 1.000 Beamte bei der Amtshandlung verletzt. Und wir müssen auch aufpassen, dass man Veränderungen in der Gesellschaft nicht übersieht. 

Sind in Österreich bereits Drohnen gegen Schlepper im Einsatz? Wo genau?

Über 90 Drohnen sollen in den nächsten beiden Jahren in Einsatz kommen. Experten haben über die Bundesbeschaffungsagentur ein Modell ausgesucht, das aufgrund der technischen Spezifikationen Tag und Nacht im Einsatz sein kann. Drei davon werden bereits von ausgebildetem Personal an der Grenze im Burgenland eingesetzt, um gegen Schlepper aus Slowenien vorzugehen. Danach wird der Einsatz in anderen Bundesländern ausgerollt. Auch wird die Cobra Drohnen im Anti-Terroreinsatz verwenden. Bei großen Demonstrationen und Sportveranstaltungen werden Drohnen künftig für den Sicherheits- und Ordnungsdienst ebenso fliegen – also überall dort, wo Hubschrauber zu wenig Sicherheit bieten, etwa bei Schwerpunktaktionen. Sobald die Landesdirektionen Bedarf einmelden, werden Drohnen vom Ministerium zur Verfügung gestellt. 

Im April 2020 gab es in Österreich mit 338 Asylanträgen um 66 Prozent weniger als im Vergleichszeitraum 2019. Nach Öffnungen der EU-Binnengrenzen Ende Juni erwarten Sie heuer noch rund 20.000 Asylanträge. Welche Maßnahmen planen Sie gegen erhöhte Migration? 

Wir liegen jetzt schon weit über dem Vergleichszeitraum 2020. Mit der "Wiener Erklärung" haben wir die Westbalkaninitiative, eine Plattform gegen illegale Migration, ins Leben gerufen, die die Maßnahmen der EU-Staaten mit den Staaten des Westbalkans koordiniert, um den Grenzschutz zu verstärken, und Asyl- und Rückverfahren schneller durchzuführen. Das betrifft die gesamte östliche Mittelmeerroute, also die Migration von Griechenland über die Westbalkanstaaten oder Ungarn, Rumänien und Bulgarien, Richtung Österreich. Diese österreichische Initiative zielt darauf ab, mit Rückführungen schon vor der EU-Außengrenze zu beginnen. Deshalb sind wir auch in engem Kontakt mit Bosnien-Herzegowina. Dieses Land, sowie Serbien und Nord-Mazedonien, haben gar keine Rückführungsabkommen. Sie empfinden sich als Transitstaaten. Durch den Grenzschutz und, damit sie sich mit dem Thema "irreguläre Migration" nicht alleine gelassen fühlen, wollen wir, dass Rückführungen vor der EU-Außengrenze beginnen können. Das ist ein mühsamer, aber sinnvoller Weg. 

Entgegen anderer EU-Ländern begrüßen Sie ein Gesetz, das Asylzentren im Ausland ermöglicht. Damit können die Behörden Asylbewerber in Drittländer fliegen, wo sie darauf warten müssen, dass ihr Antrag in dem jeweiligen europäischen Land behandelt wird. Haben Sie keine rechtlichen oder humanitären Bedenken?

Das ist verkürzt gesagt. Es gibt drei Modelle. Einerseits sehen wir uns das griechische Modell an. Griechenland, das mit dem Nachbarstaat Türkei eine große politische Herausforderung hat, definiert Länder, aus denen ein hoher Migrationsdruck kommt, aus denen aber Angehörige keine politische Verfolgung erleiden, etwa Pakistan oder Afghanistan. Für diese werden Schnellverfahren angewandt. Angehörige dieser Länder müssen vor Antritt ihrer Reise erfahren, dass sie keine Chance auf Aufnahme haben. Das ist auch für Österreich relevant, weil wir jede Migrationswelle in Griechenland verzögert bei uns spüren. Das von Ihnen angesprochene Modell betrifft Dänemark: Dieses kooperiert mit sicheren Drittstaaten, um dort Asylverfahren durchzuführen. Wir prüfen, inwieweit das auch für uns rechtlich möglich ist und wie sich die Umsetzung gestaltet. Denn wir unterstützen diesen Weg. Das wäre eine neue Möglichkeit für Stabilität zu sorgen und Menschen, die hier nicht bleiben dürfen, nicht mehr unter größten Mühen wieder in ihre Herkunfttstaaten zurückzuführen. Drittens will Österreich in Kooperationen mit sicheren Drittstaaten Menschen, die von Österreich aus nicht abgeschoben werden können, in diese Staaten führen, damit sie dann von dort wieder in ihre Heimatländer repatriiert werden können, wenn sie entsprechende Einreisezertifikate haben. Das sind also drei Konzepte mit dem Ziel, Rückführungen möglichst rasch und effizient durchzuführen. 

Derzeit dauern die Verfahren eben lange ...

Nicht nur dauern die Verfahren lange, sondern die Herkunftsstaaten akzeptierendie Heimreisezertifikate oft nicht. Daher braucht es eine starke EU-Kooperation. Die Union muss mit den Herkunftsländern auf Augenhöhe verhandeln und ihnen vermitteln, dass es sich lohnt, mit der EU zu kooperieren. Wenn nämlich die EU in diesen Ländern Projekte unterstützt, begleitet und aufbaut, damit die Menschen dort Perspektiven und Bleibeberechtigungen bekommen. Das gilt auch für sichere Drittstaaten, die an Fluchtrouten liegen. Gemeinsam müssen wir diesen Ländern zeigen, dass durch Wirtschaftskooperationen mehr möglich ist. Als Einzelstaat macht Österreich das etwa in Kooperation mit ICMPD (Internationales Zentrum für die Entwicklung der Migrationspolitik, Anm.) mit Nigeria. Kriminell gewordene Nigerianer, die bei uns verurteilt wurden und keinen Anspruch auf Asyl haben, wurden von Nigeria nicht mehr zurückgenommen. Als wir dann mit ICMPD ein Projekt entwickelt haben, Arbeitsplätze für Jugendliche zu schaffen und die Nigerianer gemerkt haben, dass es uns ernst ist, haben wir kein Problem mehr, straffällig gewordene Nigerianer abzuschieben. Es wäre aber viel interessanter, wenn die EU mit ihrer Macht geschlossen dahinter seht und Rückführungen durch Rückführungsabkommen mit Drittstaaten beschleunigt. bzw. Angehörigen von Herkunftsländern über derartige Programme Perspektiven gibt. 

Die SPÖ hat sich für die Verkürzungsdauer von Einbürgerungen von zehn auf sechs Jahre bzw. Einbürgerungen von Kindern ausgesprochen, deren Eltern mindestens sechs Jahre in Österreich sind. Wir sind weltweit bei Einbürgerungen Schlusslicht. Viele Ausländer zahlen bei uns Steuern, können aber nicht wählen. Wie stehen Sie dazu?

Ich lehne den Vorschlag ab, weil die Staatsbürgerschaft etwas ganz Besonderes ist, und bedeutet, dass man in der Gesellschaft aufgenommen wurde. Das ist nichts Selbstverständliches, sondern ein Privileg. Wenn Menschen zu uns kommen und bereit sind, sich zu integrieren, dann gehört das geprüft, beobachtet, und, wenn dann entsprochen wird, die Staatsbürgerschaft verliehen. Aber sechs Jahre sind zu kurz. Man braucht auch einen Konsens über das Parteipolitische hinaus.  

Es gibt ja viele Menschen, die integriert sind, perfekt Deutsch sprechen. Soll man diesen nicht früher die Staatsbürgerschaft gewähren?

Es gibt eine sechs-Jahres-Frist. Da differenziert man ja bereits. Aber eine Pauschalierung nach sechs Jahren vorzunehmen, das ist der falsche Weg. Es soll eine Differenzierung geben, aber keine Pauschalierung.

Das Hitler-Haus in Braunau soll „neutralisiert“ werden, indem dort die lokale Polizeistation untergebracht wird, um möglichen Demonstranten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Warum nicht stattdessen Veranstaltungen von Gruppen ermöglichen, gegen die Hitler vorgegangen ist, um Verantwortung zu übernehmen?

Konkret handelt es sich um das Bezirkspolizeikommando und eine Polizeiinspektion. Diese Fragen haben sich im Vorfeld des Projekts (zur Evaluierung des Hauses , Anm.) gestellt. Mit der Historikerkommission wurde einstimmig beschlossen, dass das Haus nicht der Platz ist, um der Geburt eines Diktators und Verbrechers zu gedenken. Denn das Haus selbst hat ja keinen politischen Hintergrund, es ist nur Hitlers Elternhaus und er wurde dort geboren. Sein Wahnsinn, den er betrieben hat, mit dem Tod von Millionen von Menschen, hat damit nichts zu tun. Die angesehenen Experten, Professor Jabloner und Professor Rathkolb, haben diese Empfehlung ausgesprochen. Sie wollten den Fokus auf die Verbrechen Adolf Hitlers legen, und zwar in den Konzentrationslager Mauthausen und Gusen, wo es uns als Republik gelungen ist, erhebliche Teile der Grundstücke anzukaufen, um als Republik ein würdiges Gedenken für die Opfer zu machen, und die nächsten Generationen darauf zu sensibilisieren. Denn solche Verbrechen dürfen nicht mehr geschehen. Man wollte ja auch keinen Pilgerort für Neonazis und Co schaffen. Ich finde diese Argumentation schlüssig.
 

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