Einblick in menschliche Abgründe: Die forensische Psychiaterin und die Täter

Bekannt wurde Adelheid Kastner als Gutachterin im Fall Fritzl | Foto: Gespag
  • Bekannt wurde Adelheid Kastner als Gutachterin im Fall Fritzl
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Sie erstellen psychiatrische Gutachten über Gewalttäter. Nach der Amokfahrt in Graz fragen sich viele: Wie kann ein Mensch derart Furchtbares tun?
Menschen tun Menschen immer wieder Furchtbares an, wir verdrängen das. Aber man muss sagen: Solche Ereignisse sind ganz, ganz selten. Daraus sollte man keine generelle Unsicherheit ableiten. Man sollte sehen, wie gut das Sicherheitsnetz in Graz funktioniert. Das ist verlässlich.

Viele stellen sich die eine Frage: Warum? Kann oder soll man Derartiges verstehen?
Es gibt Dinge, die kann man nicht verstehen. Man kann auch nicht nachempfinden, wie sich Leute fühlen, die das erlebt haben. So etwas kann man nicht bewusst „verarbeiten“: Keiner setzt sich hin und arbeitet pro Tag zwei Stunden daran. Die Zeit arbeitet für uns. Das Verstehen-Wollen führt aber oft zu kruden Erklärungsversuchen.

Sind Sie selbst noch schockiert über derartige Taten?
Ja, die Realität übersteigt die Fanatasie. Natürlich bin ich schockiert. Ich darf emotional nicht abstumpfen, ich muss mich in Menschen hineinversetzen, sonst kann ich meine Arbeit nicht machen.

Als psychiatrische Gutachterin: Müssen Sie einen professionellen Blick von außen haben und sich in die Täter einfühlen?

Das kann man nicht trennen. Ich vermesse die Menschen nicht mit dem Maßstab, ich muss sie als Ganzes wahrnehmen. Ihre Emotionalität kann ich nur durch meine Emotionalität erfahren. Vollkommen nachempfinden kann man ihre Taten nicht, aber bis zu einem gewissen Grad.

Auch bei Josef Fritzl, dessen Gutachterin Sie ja waren?
Seine Taten sind nicht nachvollziehbar. Aber aus seiner Position heraus folgen sie einer gewissen Logik. Diese Perspektive muss ich vor Gericht vermitteln.

Ist jeder Mensch zu brutalen Handlungen fähig?
Jeder kann psychisch krank werden, das passiert – es sagt ja keiner: „Morgen bin ich schizophren.“ Aber nicht jeder, der derartiges tut, ist psychisch krank: Es gibt Menschen, die an Beziehungsstörung leiden und solche, die ihre Empathie ausknipsen, weil sie andere Interessen darüber stellen. Aber jeder Mensch ist zu massiver Aggression fähig, etwa wenn seine Kinder bedroht sind. Es ist gut, dass wir nicht alle unsere Möglichkeitsformen kennenlernen.

Sie haben ein Buch zum Thema „Wut“ geschrieben. Sollen wir derart „normale“ Aggression im Alltag äußern?
In unserer Gesellschaft sind normale Wut-Äußerungen leider selten – etwa zu sagen: „Das geht jetzt gar nicht! Da krieg ich jetzt eine Wut!“ Viele fürchten: Wenn man jemanden anschreit, hat der gleich eine posttraumatische Störung. Das zwingt uns in ein Korsett. Aber solche Emotionen soll man zulassen und nicht anstauen: Man darf seinen Mitmenschen adäquate Rückmeldungen geben.

In Graz haben Sie nun für den Verein „Sicher Leben“ einen Vortrag über „Sexualisierte Gewalt“ für Pädagogen gehalten.

Ja, es braucht Zivilcourage, um Opfer zu schützen aber auch um keine vorschnellen Schlüsse zu ziehen. Da ist Sensibilisierung nötig. Es gibt kein einziges Symptom, das eindeutig auf ein Erlebnis verweist. Junge Menschen können sich ritzen, weil sie Missbrauch erlebt haben oder weil es in ihrer Gruppe cool ist.

Sie selbst werden oft als besodners „tough“ wahrgenommen. Mussten sie sich als Frau je stärker behaupten?
In meiner medizinischen Laufbahn nicht, da hatte ich Vorteile, weil mir körperlich schwere Arbeiten bei OPs erspart blieben. Später als Konsiliarpsychiaterin gab es Bedenken, wie männliche Straftäter auf mich reagieren und ob es ein Gefährdungspotenzial gibt.

Wie sind Sie mit den Bedenken umgegangen?
Entscheidend ist, wie ich mich präsentiere: Ich handle nicht als Frau sondern als Fachperson. Ich sitze nicht da, lege den Kopf schief und flöte herum. Bemerkenswert ist aber das Bild, das entsteht, wenn man als Frau diesen Beruf hat: Man gilt als „tough“. Wenn ein Mann diesen Job professionell macht, würde man ihm das nicht zuschreiben.

Eine Frau fragt man auch eher, ob sie bei diesem Beruf Angst hat.
Ja, das hat damit zu tun, dass ich nicht so kräftig bin wie ein 1,90-Meter-Mann, der mir gegenübersitzt.

Hatten Sie bisher Angst?
Wenn man nie Angst hat, ist man dumm. Ich hatte zwei Situationen, in denen ich Gespräche abgebrochen habe. Wenn man Beängstigendes erlebt, soll man gehen. Das gilt auch für Männer.

STECKBRIEF

geboren am 17. August 1962 in Linz
Psychiaterin, Chefärztin d. forensischen Abteilung d. Landes-Nervenklinik Wagner-Jauregg
Gerichtsgutachterin u.a. im Fall Fritzl

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