Im Interview
Ombudsmann Alfred Stingl über 20 Jahre "Von Mensch zu Mensch"

Seit zwei Jahrzehnten ist der Grazer Altbürgermeister Alfred Stingl in seiner Funktion als "Woche"-Ombudsmann die inoffizielle soziale Instanz für alle Grazerinnen und Grazer, die aus verschiedenen Gründen in Not geraten sind. Zum 20. Jubiläum hat MeinBezirk.at den Menschen und vor allem Menschenfreund hinter der erfolgreichen Sozialhilfe-Aktion "Von Mensch zu Mensch" Alfred Stingl zum Interview gebeten.

GRAZ. Was im Jahr 2003 – nach dessen Abschied aus der Politik – für Alfred Stingl mit einer spontanen Idee begonnen hat, ist für ihn selbst mittlerweile mehr als nur ein Herzensprojekt und für die Leserinnen und Leser der Woche eine unersetzliche Anlaufstelle: Die Woche-Aktion "Von Mensch zu Mensch" läuft seit 2004 und startet heuer damit in ihr 20. Jahr.

Inoffizielle soziale Instanz für alle Grazerinnen und Grazer, die in Not geraten sind: Im Gespräch mit Chefredakteur Roland Reischl blickt Alfred Stingl zurück und nach vor. | Foto: Konstantinov
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Seither hat sich Alfred Stingl insgesamt um 13.665 Anliegen von Menschen in dieser Stadt gekümmert – die ausführliche und beeindruckende Bilanz der vergangenen beiden Jahrzehnte gibt es hier. 
Diese Zahlen zeigen die numerische Dimension der Aktion, die menschliche Dimension kann jedoch niemand besser beschreiben als Alfred Stingl selbst. 
Im großen Interview erinnert sich der Woche-Ombudsmann an den Anfang, berichtet darüber, wer die Aktion am Leben erhält und wirft einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft.

  • So im Rückblick betrachtet: Wie ist die Idee entstanden, wie ist die Aktion "Von Mensch zu Mensch" entstanden?

Ja, die Idee ist von der "Woche" ausgegangen. Ich bin angerufen worden, da die Zeitung ein Interesse daran habe, auch die Probleme der Menschen in einer Stadt darzulegen. Und aus diesem Bereich habe ich ziemlich viel Erfahrung mitgebracht aus meiner politischen Arbeit im Ressort Jugend und dann im Sozialressort und da erfährt man viel. Nach der vorletzten Gemeinderatswahl habe ich gleich gesagt, dass ich einerseits das Sozialressort behalten will und andererseits das Theaterressort. Diese beiden Ressorts waren mir wichtig. Denn erstens wollte ich wissen, wie es den Menschen, vor allem den älteren Menschen geht und zweitens was das Theaterressort betrifft: Da habe ich ganz nüchtern gesagt, das will ich behalten, weil ich einer der wenigen bin, der überhaupt ins Theater geht. Jedenfalls sind das zwei Ressorts, die zeigen, wie es den Menschen wirklich geht. 

  • Soweit der Hintergrund und wie hat es dann in der "Woche" begonnen mit der "Aktion von Mensch zu Mensch"?

Damals waren wir noch in der Belgiergasse und da bin ich dann hingekommen und habe 'Guten Tag" gesagt und gefragt, ob schon wer angerufen hat (lacht). Der Anfang hat halt ein bißchen gebraucht. Anfangs bin ich in einem Raum mit den anderen Redakteuren gesessen und das hat mir eigentlich gefallen.

Was in der Belgiergasse - dem ehemaligen Sitz der Woche Graz begann – hat sich zu einer Erfolgsgeschichte entwickelt.
  • Was in der Belgiergasse - dem ehemaligen Sitz der Woche Graz begann – hat sich zu einer Erfolgsgeschichte entwickelt.
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  • Wir waren ja damals der Meinung, dass ein Bürgermeister, der so viele Jahre Bürgermeister der Stadt Graz war, ja seinen Namen und sein Gesicht zur Verfügung stellt. Womit wir nicht gerechnet haben, ist, dass ein Bürgermeister wirklich täglich arbeitet, sich wirklich um jeden einzelnen Fall persönlich kümmert, sich so hinter die Sache stellt. Damit haben wir auch nicht gerechnet. Und das ist ja das Besondere an der Aktion für uns gewesen.

Ja, und das es ist – wenn ich das so ohne Einbildung sagen darf – auch heute noch, nur stärker. Ich glaube, es gibt nicht so viele Leute in der Politik, die für Menschen eine ganze Woche zur Verfügung stehen. 

  • Nochmals kurz zurück zum Start in der "Woche"-Redaktion – Sie sind da wirklich mit den anderen Redakteurinnen und Redakteuren gesessen?

Ja, ich war regelmäßig dort und habe dort Telefonsprechstunden abgehalten. Vom Inhaltlichen her hat sich seither nicht allzu viel verändert, weil es immer nur – nur unter Anführungsstrichen – darum gegangen ist, ob die Bürgerinnen und Bürger der Stadt jemanden haben, der ihnen helfen kann. Und das ist bis heute so geblieben.

  • Was sich grundlegend verändert hat, wie wir aus der Bilanz sehen, ist, dass 2004 knapp über 200 Fälle behandelt wurden und im Rekordjahr 2000 1.300, also viermal so viel.

Ja, das hat sich natürlich herumgesprochen. Also es gibt sogar Leute – und das sage ich jetzt nicht negativ gegen die Verwaltung – die sagen, sie reden mit mir lieber als mit der Verwaltung, der Gemeinde ... was manchmal auch wirklich falsch ist. Aber das muss man dann halt auch korrigieren.

Besonders die Alleinerzieherinnen und auch Alleinerzieher liegen dem Ombudsmann am Herzen: "Die Zahl der Trennungen liegt bei 50 Prozent, das ist ein riesiges Thema." | Foto: Konstantinov
  • Besonders die Alleinerzieherinnen und auch Alleinerzieher liegen dem Ombudsmann am Herzen: "Die Zahl der Trennungen liegt bei 50 Prozent, das ist ein riesiges Thema."
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  • Aber war das Teil des Erfolgs hat, dass wir den Leuten die Hemmungen genommen haben, die Barriere niedriger gemacht haben?

Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen mir vertrauen. Einerseits die Menschen, die Hilfe suchen, andererseits auch die Unterstützer der Aktion. Für unsere Aktion ist wichtig, dass in jedem Fall der Mensch im Mittelpunkt steht. Wir arbeiten dabei immer auf Augenhöhe, anonym, die persönliche Kontaktaufnahme ist uns besonders wichtig. Vor allem aber ist es das unbürokratische Herangehen, das uns ausmacht. Jene Leute, die bei uns anrufen, denen geht es nicht darum, andere schlecht zu machen. Vielmehr geht es ihnen darum, dass ihnen Zeit gewidmet wird, dass man ihnen zuhört. Und die Menschen sind auch bereit, von all ihren Sorgen zu sprechen. 

  • Aber es erfordert auch die Fähigkeit, dass man sich abgrenzen kann, denn da werden ja sicher viele Schicksalsschläge an Sie herangetragen werden?

Darüber würde ich keine Bücher schreiben wollen. Trotzdem – und das hat sich jetzt verstärkt – am schwersten haben es die Alleinerzieherinnen, die Frauen. Ich bin manchmal sozusagen negativ erstaunt, wie Männer von zu Hause weggehen können. Der packt einfach einen Koffer und ist nicht mehr gesehen. Und da ist es ihm egal, ob die Frau die Miete zahlen kann. Ganz zu schweigen davon, dass sie den Kindern nichts mehr bieten kann. 

  • Das hat dann auch etwas mit Stolz und Selbstwertgefühl zu tun, wenn man zugeben muss, dass man seinem Kind nichts ermöglichen kann, oder?

Ja natürlich. Und da bin ich wirklich sehr skeptisch, wie Männer mit Frauen und Kindern umgehen. Allerdings nicht generell, weil es gibt auch den umgekehrten Fall. Gerade in den letzten Wochen hatte ich einige Fälle, wo die Männer mit den Kindern übrig waren und die Frauen weg sind. 

  • Ist das etwas, was sich verschärft hat über die Jahre?

Ganz sicher. Ja, weil sonst hätten wir ja nicht diese Trennungsquote.

Über 13.600 Fälle hat der Woche-Ombudsmann seit 2004 "abgearbeitet". Nicht in allen, aber in vielen Fällen konnte weitergeholfen werden. | Foto: Konstantinov
  • Über 13.600 Fälle hat der Woche-Ombudsmann seit 2004 "abgearbeitet". Nicht in allen, aber in vielen Fällen konnte weitergeholfen werden.
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  • Sie haben es natürlich schon angesprochen. Jetzt lebt die Aktion ganz in erster Linie von Ihrem Engagement und Ihrem Einsatz. Aber natürlich braucht es auf dem Weg dorthin auch Unterstützer, wie schaut das aus?  

Ja, die gibt es. Allerdings nenne ich keine Namen – bis auf einen, der ist bekannt: Martin Auer, mit dem ich Brot verkaufe, was dann unter anderem unserer Aktion zugute kommt.
Aber neben Martin Auer gibt es auch viele andere Partner, die im Stillen helfen wollen. Aus der Wirtschaft und aus der Industrie gibt es gibt drei, vier Leute, die zu mir kommen und sagen: 'Gehen wir etwas trinken oder essen' und dann sagen, wie viel sie auf den Tisch legen. Und das ist ein Glück. 

  • Wie entwickelt man ein Gefühl dafür, was hinter der Geschichte eines Menschen steckt?

Man muss den Leuten sozusagen ein bisschen ins Gesicht schauen. Wie agiert der Mensch? Wie agiert der Mensch in der Familie? Wie agiert er gegenüber den Kindern? Zuhören muss man. Ganz ehrlich: Mir wäre lieber, es gäbe das alles nicht, weil alle Leute so gut sind. Aber auf der anderen Seite mache ich diese Arbeit gern.

  • Wenn man mit so vielen Schicksalen, mit so einem persönlichen Leid konfrontiert ist, woher nimmt man die Kraft, das dann über so viele Jahre zu machen und immer wieder von Neuem auf die Leute zuzugehen?

Jeder reagiert wahrscheinlich anders, ich sage so: 'Allein wenn ich probieren kann zu helfen, bin ich zufrieden, dass ich es probieren wollte'. Und in den meisten Fällen kann man helfen.

  • Eine vorletzte Frage noch zur Bilanz: 224 Ansuchen gab es im Startjahr 2004 und 2022 lagen wir bei über 1.000 Ansuchen und Anfragen, das sind im Schnitt drei Anfragen pro Tag. Woher nehmen Sie die Zeit? Wie schaut so ein Tag im Leben von Alfred Stingl aus ?

Das ist eine gute Frage! Ganz einfach: Wenn man will, dass etwas ordentlich gemacht wird, dann muss man daran denken, dass es lange Zeiten gibt mit. Da kann es zwischendurch auch hart werden. Aber ich habe offensichtlich die Gene dazu und viel länger als bis sieben Uhr früh schlafe ich ohnehin nicht, auch wenn es abends länger geworden ist. 

Wie man das Pensum an Anfragen und Hilfsansuchen bewältigt? "Auch wenn ich spät ins Bett komme, stehe ich um sieben Uhr auf", verrät Alfred Stingl im Interview mit Roland Reischl und Andrea Sittinger. | Foto: Konstantinov
  • Wie man das Pensum an Anfragen und Hilfsansuchen bewältigt? "Auch wenn ich spät ins Bett komme, stehe ich um sieben Uhr auf", verrät Alfred Stingl im Interview mit Roland Reischl und Andrea Sittinger.
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  • Was ist Ihr Wunsch für die Aktion, für die Aktion "Von Mensch zu Mensch"? Wie soll es weitergehen?

Im Grunde nach gleich. Solange das funktioniert, dass Leute, die relativ viel Geld haben, bei der Stange bleiben und sagen: 'Da tun wir weiter, das zahlt sich aus.' Und da gibt es gar nicht so wenige, die das sagen. So können wir gut weitermachen. 

Wie "Von Mensch zu Mensch" funktioniert

Die Anfragen und Hilfsansuchen werden wöchentlich in der Geschäftsstelle der Woche Graz per Telefon und Mail gesammelt und dann an den Ombudsmann weitergegeben. Alfred Stingl erledigt alle Anfragen ehrenamtlich in seiner Pension und wird dabei seit Jahren von Heike Jantschner, einer weiteren ehrenamtlichen Mitarbeiterin, unterstützt.

Mehr zur Aktion "Von Mensch zu Mensch":

"Von Mensch zu Mensch" helfen (+Video)
"Woche"-Aktion verzeichnet zahlreiche Hilferufe
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