Nora Tödtling-Musenbichler im Interview
"Not ist komplexer, Caritas kann Krise"

Blick zurück und nach vorn: Caritas-Präsidentin Nora Tödtling-Musenbichler über die Herausforderungen im aktuellen "Krisenmodus" und warum es die Caritas auch in den kommenden 100 Jahren brauchen wird. | Foto: Brand Images
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Ab Februar 2024 wird mit Nora Tödtling-Musenbichler erstmals eine Frau an der Spitze der Caritas Österreich stehen. Mit MeinBezirk.at hat die designierte Präsidentin über die vielfältigen Herausforderungen und Aufgaben der Caritas in der heutigen Gesellschaft gesprochen. Doch nicht nur die Gegenwart und Zukunft beschäftigen die Hilfsorganisation, es steht auch ein Jubiläum an: Blickt die Caritas doch auf ihr 100-jähriges Bestehen zurück.

STEIERMARK. Seit hundert Jahren steht die Caritas an der Seite Not leidender Menschen. Zwar haben sich die Ursachen für Not im letzten Jahrhundert verändert – was jedoch stets gleich bleibt, sind die Scham und Hemmung, um Hilfe zu bitten. Über diese Hemmschwelle, die Charakteristika von Solidarität im 21. Jahrhundert und warum die Caritas so weiblich ist, spricht die designierte Präsidentin der Caritas Österreich Nora Tödtling-Musenbichler im ausführlichen Interview. 

  • Wie sind Sie in Ihrer neuen Funktion angekommen – von der Steiermark auf die Bundesebene? Was sind Ihre ersten Vorhaben?

Also einerseits bleibe ich ja weiterhin Direktorin der Caritas Steiermark. Der Vorsitz ist ja ein Ehrenamt und ich freue mich sehr darüber, jetzt auch auf Österreich-Ebene einfach mit den vielen Kolleginnen und Kollegen, mit den vielen Freiwilligen Caritas gestalten zu können, nämlich auch über unsere eigenen Landesgrenzen hinweg. Ich übernehme das Amt mit 1. Februar von Michael Landau und es ist mir auch bewusst, dass das große Fußstapfen sind, in die ich da trete.

Bei der Lebensmittelausgabe: Nora Tödtling-Musenbichler mit ihrem Vorgänger Michael Landau  | Foto: Neuhold
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Was die Vorhaben betrifft, so glaube ich, dass es wichtig ist, dass wir Caritas gut gestalten und in die Zukunft bringen, weil es einfach unser größtes Ziel ist, Not zu sehen und zu handeln – entsprechend der Zeit, in der wir leben, gut Akzente und Maßnahmen zu setzen, aber auch Forderungen zu stellen, damit Menschen auch ein gutes Leben haben können.

  • Caritas gut gestalten – was heißt das gerade in der aktuellen Zeit, wo die Not teilweise immer größer wird, die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer?

Not hat es immer schon gegeben, uns als Caritas gibt es seit über 100 Jahren in Österreich und bald 100 Jahre in der Steiermark, und da hat sich Not einfach wesentlich verändert. Sie ist komplexer geworden. Und da wollen wir niemanden zurücklassen, da sehe ich die Caritas in ihrer Verantwortung, Menschen mitzunehmen auf unserem, auf ihrem Lebensweg. Das beginnt bei den Kindern, wo es darum geht, Kinderarmut zu verhindern. Denn Kinder, die in Armut aufwachsen, haben es auch als Erwachsene schwer. Es ist ein großes Ziel von uns, Kinder auf ihre Bildungsreise mitzunehmen.

Ein zweiter Aspekt ist das soziale System in Österreich, das grundlegend sehr gut funktioniert. Aber wir merken auch, dass es Lücken hat und es gilt, diese Lücken gut zu schließen. Dazu braucht es eine strukturelle und nachhaltige Armutsbekämpfung. Da werde auch ich in meiner neuen Funktion nicht locker lassen, weil wir jeden Tag in unseren Schlafstellen und in unseren Beratungsstellen sehen, dass Menschen zu uns kommen, die Hilfe brauchen, und das sind Mindestpensionistinnen und -pensionisten, die nicht weiter wissen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, aber eben Care-Arbeit geleistet haben und zu wenig eingezahlt haben, dann Alleinerzieherinnen, die keinen Kinderbetreuungsplatz haben. Das sind Menschen aus der Mittelschicht, denen jetzt aufgrund der Teuerung aber einfach zu wenig zum Leben bleibt.

  • Welche Hebel gäbe es Ihrer Ansicht nach, um hier an den Strukturen etwas zu ändern?

Das wäre einerseits eine Anhebung der Ausgleichszulage und andererseits eine Reform der Sozialhilfe. Ich bin der festen Überzeugung, dass es keinen Unterschied machen darf, ob ich in Vorarlberg lebe, in Salzburg, der Steiermark oder Wien. Armut darf nicht ortsgebunden sein, Armut ist einfach Realität.

  • Da waren jetzt auch schon Forderungen an die Politik herauszuhören. Wo braucht es eventuell außerdem noch mehr Nachdruck?

Also vorweg, es funktioniert vieles sehr gut, und auch die Politik hat in den letzten Jahren vieles gut auf den Weg gebracht, gerade jetzt im Hinblick auf diese Teuerungswelle. Da sind Maßnahmen gesetzt worden, die greifen, und da sehen wir auch mit wie wenig Hebeln eigentlich auch wirklich gute Armutsprävention gelingen kann. Ich denke etwa an die Geräte-Tauschaktion des Klimaministeriums oder an die Energieberatungsangebote. Und dort brauchen wir die Politik. Sie ist es, die die Verantwortung in unserem Land hat und gestaltet. Ich sehe es als eine Partnerschaft, wo es darum geht, gemeinsam um gute Lösungen zu ringen.

Voller Vorfreude auf die Aufgaben, die ab Februar österreichweit auf sie warten: Nora Tödtling-Musenbichler | Foto: Brand Images
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  • Zurück in die Zukunft: Wie werden Sie Ihre Tätigkeit auf Bundesebene anlegen. Wie oft werden Sie in Wien sein, welche Termine stehen schon am Kalender?

Also, es wird sich zeigen, wie oft ich wirklich auch in Wien sein muss, wir haben ein großartiges Team vor Ort unter der Leitung von Generalsekretärin Anna Paar, die großartige Arbeit leistet für die Caritas Österreich. Hier findet natürlich ein Austausch mit den Ministerien und anderen Stakeholderinnen und -holdern statt, mit denen wir in der sozialen Arbeit zusammenarbeiten.
Und natürlich werde ich regelmäßig in Wien sein, aber es ist mir ein großes Anliegen, die Caritas in Österreich zu besuchen und daher werde ich 2024 durch alle Bundesländer touren. Aber dank Corona und dem digitalen Austausch wissen wir, dass auch die Steiermark sozusagen Österreich sein kann und sich auch vieles hier abspielen kann.

  • Sie haben es bereits angesprochen: Die Generalsekretärin ist eine Frau, mit ihnen steht jetzt auch erstmals eine Frau überhaupt an der Spitze, das ist viel weibliche Kraft. Was wird sich dadurch vielleicht ändern, wird es weibliche Akzente geben?

Also die Caritas ist schon sehr weiblich und mir geht es auch darum, sichtbar zu machen, wie viele Frauen bei uns arbeiten: Das sind immerhin zwei Drittel, und das durchgehend in allen Einrichtungen, auf allen Ebenen.
Und ja, wenn es jetzt auch durch mich sichtbar weiblicher ist, ist es noch mehr unser Anliegen, genau hinzuschauen, wo Frauen Unterstützung brauchen, weil eben gerade Frauen von Armut betroffen sind. Und da ist natürlich auch mein persönlicher Wunsch als Frau, hier Schwerpunkte zu setzen. Dennoch: Genauso wichtig ist unser genereller Ansatz: Not sehen und handeln. Diesen Auftrag haben wir – unabhängig vom Geschlecht.

  • Wie nehmen sie das Thema Scham wahr? Um Hilfe zu bitten, hat immer mit einer gewissen Hemmschwelle zu tun. Hat sich hier in den letzten Jahren etwas verändert?

Menschen, die von Armut betroffen sind, haben eine große Scham, und das ist immer eine große Hürde, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Da geht es noch gar nicht um die Einrichtungen, die sie aufsuchen müssen, sondern es reicht auch schon, eine Nachbarin oder einen Nachbarn um Hilfe zu bitten. Hier gilt es bei der niederschwelligen Information anzusetzen. Wir brauchen aber auch die Gesellschaft, die diese Scham überwindet und auch Menschen anspricht, die sichtlich in Not sind.

Was wir jetzt sehen: Wenn Not in der Mittelschicht ankommt, trifft dies Menschen, die jetzt sagen, dass sie nie geglaubt hätten, je die Caritas in Anspruch nehmen zu müssen, weil sie vielleicht vorher selbst gespendet haben. Das berührt und sollte vielmehr dazu veranlassen, Hemmschwellen abzubauen und dazu zu motivieren, früh genug zu uns zu kommen.

Im kommenden Jahr wird sich die designierte Caritas-Präsidentin Österreich Nora Tödtling-Musenbichler auch auf eine Tour durch alle Bundesländer machen. | Foto: Neuhold
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  • Vielfach heißt es, durch die Pandemie sei die Gesellschaft egoistischer geworden, sie hat sich gewandelt. Wie geht es Ihnen mit dem freiwilligen Engagement? Merken Sie hier eine Veränderung?

Es gibt in der Caritas eine riesengroße Solidarität, die ich spüre – trotz der multiplen Krisen und der Resignation. Wir haben in der Caritas 46.000 Freiwillige in ganz Österreich, alleine bei uns in der Steiermark gibt es 2.500 Freiwillige, das heißt, wir haben gleich viele Freiwillige wie hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Steiermark. Das zeigt schon auch, wie viele Menschen bereit sind, sich zu engagieren. Dazu kommen dann noch die vielen, vielen Spenderinnen und Spender. Insofern nehme ich wahr, diese Solidarität nimmt nicht ab, sondern gerade in Krisenzeiten herrscht dieses Verständnis vor, Gutes zu tun, dankbar zu sein, wenn es einem selbst einigermaßen gut geht.

Was wir allerdings heuer schon merken ist, dass wir mehr Spenderinnen und Spender haben, aber die Spendensumme nimmt ab, weil die Menschen in ihren finanziellen Planungen einfach auch vorsichtiger werden. Im freiwilligen Engagement liegt die Veränderung darin, dass sich die Menschen eher projektbezogen engagieren und weniger gemäß dem Motto "einmal Ehrenamt, immer Ehrenamt".

  • Stichwort Projekte: Inwiefern begegnet die Caritas da den aktuellen Herausforderungen?

In einer großen Bandbreite, indem wir versuchen, Menschen von vor der Geburt bis zum Lebensende Hilfestellungen zu bieten. Das zeigen etwa unsere Beschäftigungsprojekte, wo wir Menschen wieder von der Langzeitarbeitslosigkeit hin in eine normale Beschäftigung bringen. Wir schauen natürlich auch gerade in unserer Auslandshilfe, dass wir der Klimakrise dort vor Ort auch gut mit Projekten entgegentreten: Diejenigen, die am wenigsten Schuld an der Klimakrise tragen, leiden am meisten darunter. Auch hier haben wir als Caritas einen Auftrag.

  • Werfen wir einen Blick zurück und nach vorn. Die Caritas feiert 100 Jahre. Wie hat alles begonnen, welche Meilensteine liegen hinter uns und was bringen die nächsten 100 Jahre?

Die Frage, die wir uns gestellt haben: Kann man hundert Jahre Caritas überhaupt feiern? Denn uns gibt es ja nicht zum Selbstzweck, sondern weil es Not gibt. Aber in den 100 Jahren ist einfach auch sehr vieles passiert, wo wir Armut verhindert haben, wo wir Perspektiven geschaffen, wo wir Leben, ein gutes Leben ermöglicht haben. Und das ist auch das Motto für das kommende Jubiläumsjahr: "Ein gutes Leben für alle."

Wenn ich die hundert Jahre für die Steiermark bilanzieren darf, so fällt mir etwa die Familienhilfe ein. In Graz, in der gesamten Steiermark haben wir ein wirklich gut funktionierendes soziales Netz mit ganz vielen anderen Organisationen. Bei uns muss keiner auf der Straße schlafen, hungern oder frieren. Dieses Netz ist in den letzten hundert Jahren durch uns und mit uns und natürlich viele andere entstanden. Was mir noch einfällt sind die Lerncafés, die auch in der Steiermark ihren Ursprung haben, die Unterstützung in der Pflege oder im Jugendbereich.

  • Warum braucht es die Caritas auch in den nächsten 100 Jahren?

Die Not verändert sich so schnell, daher gilt es umso mehr hinzuschauen, Menschen mit auf ihrem Lebensweg zu nehmen, unsere Angebote auch an diese veränderten Notsituationen anzupassen. Caritas kann Krise, aber wir wollen doch nicht ständig oder schaffen es auch nicht, ständig im Krisenmodus zu arbeiten. Aber dort wird uns in der Zukunft sicher noch vieles abverlangt werden, weil viele Krisen schneller kommen.

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