Trotz Schulbesuch
Über 100.000 Steirer können nicht sinnerfassend lesen

250.000 Österreicherinnen und Österreichern bereiten Bücher im wahrsten Sinne des Wortes Kopfzerbrechen. | Foto: Siora Photograph/Unsplash
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Wer hierzulande neun Jahre lang die Schule besucht, kann nicht zwangsläufig lesen und schreiben. Fast 100.000 Steirerinnen und Steirer haben Probleme beim Lesen, mehr als die Hälfte von ihnen hat Deutsch als Erstsprache.

STEIERMARK. „Ich würde das Formular lieber mitnehmen und zu Hause ausfüllen!", so oder so ähnlich klingt es, wenn Menschen ihre Lese- und Schreibschwäche im Alltag verheimlichen wollen. Denn obwohl es Möglichkeiten gibt, die fehlende Basisbildung auch im Erwachsenenalter nachzuholen, ist das Problem mit sehr viel Scham verbunden. Fast eine Million Österreicherinnen und Österreicher hat erhebliche Defizite beim Lesen und Schreiben, 250.000 Menschen hierzulande können überhaupt nicht lesen.

"Das Problem zieht sich quer durch alle Altersschichten und hat vielfältige Gründe. Das kann an einem grundsätzlichen Desinteresse am Lernen in der Schule genauso liegen wie an Lehrern, bei denen sich Schüler einfach nicht wohl gefühlt haben“, erklärt Barbara Andree, Projektleiterin beim Grazer Beschäftigungsprojekt ISOP. Der familiäre Hintergrund ist häufig entscheidend - in Familien, in denen Bildung keinen hohen Stellenwert hat und es weder Bücher noch Zeitungen gibt, seien die "Grundvoraussetzungen" denkbar schlecht, wie die Expertin schildert.

Noten sagen nur wenig über die tatsächlichen Fähigkeiten aus, so die Expertin. | Foto: Lilartsy/Unsplash
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Wie es trotz erheblicher Defizite gelingt, die Schule erfolgreich abzuschließen, erklärt sich Andree so: „Eine Note sagt ja noch nicht wirklich viel über die tatsächlichen Kompetenzen aus."

Scham und eingeschränkte Lebensqualität

Nicht nur, dass Menschen mit einer Lese- und Schreibschwäche enorme Nachteile am Arbeitsmarkt haben, auch der Alltag ist eine Herausforderung. „Wenn man Beipackzettel und amtliche Schreiben nicht lesen kann, ist das mitunter mit schlimmen Folgen verbunden. Wir haben in unseren Basisbildungskursen daher auch immer wieder TeilnehmerInnen, die Formulare mitbringen“, gibt Andree Einblick in ein nach wie vor stark tabuisiertes Thema. Das größte Problem sehen die Expertinnen darin, dass Lese- und Schreibschwäche sowie Analphabetismus mit so viel Scham verbunden ist.

„Die Menschen verstecken ihr Problem. Getrauen sich oft auch nicht in einen der vielen Basisbildungskurse, wo sie ihre Defizite ausgleichen könnten, sondern entwickeln unterschiedlichste Strategien, um sich durch das Leben zu schlagen.“
Barbara Andree, Projektleiterin Basisbildung, ISOP

Dabei ist das Vertuschen oft schwieriger, als letztlich lesen zu lernen. Ist die Hemmschwelle erst einmal überschritten, wird meist sehr schnell deutlich, mit wie viel höherer Lebensqualität die Fähigkeit, sinnerfassend lesen zu können, verbunden ist.

E-Mails verstehen, Geschichten vorlesen

Was Betroffene letztlich dazu veranlasst, ihr Defizit doch auszugleichen, sind meist persönliche Gründe. „Sie wollen etwa endlich ihre Mails lesen können. Sie wollen dem Enkerl vorlesen oder den Führerschein machen – wenn also die persönliche Not sehr groß wird", so die Expertin. Wenn dann auch noch Freunde oder Bekannte erzählen, dass es entsprechende Bildungsangebote in der Steiermark gibt, entscheiden sich Betroffene eher für diesen Schritt.

Welche Rolle haben Bücher in deiner Kindheit gespielt? | Foto: Picsea/Unsplash
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Die Geschäftsführerin des Bildungsnetzwerkes Steiermark, Kerstin Slamanig wünscht sich, dass Menschen mit Leseschwäche durch entsprechende Basisbildungsangebote unterstützt werden: "Nicht nur in Bezug auf den Arbeitsmarkt, auch gesellschaftlich müssen wir schauen, dass niemand zurückbleibt. Wer nicht sinnerfassend lesen kann, dem ist gesellschaftliche Teilhabe generell erschwert.“

Anlässlich des Weltalphabetisierungstages am 8. September soll ein erneuter Weckruf passieren. "Gerade im heurigen Jahr der Erwachsenenbildung muss auch in diesem so sensiblen und wichtigen Bereich verstärkt aufgezeigt werden, dass Bildung wirkt", so Slamanig abschließend.

Weiterbildungsangebote für Personen mit Leseschwäche:

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