Aufständische

- Flurim auf Kurzbesuch in Gleisdorf
- hochgeladen von martin krusche
Nachmittags erreichte mich das Telefonat. Ob ich etwas Zeit hätte, damit wir einen Kaffee trinken können. Ich war völlig überrascht. Flurim befand sich schon in Gleisdorf.
Ich saß gerade auf der Ruderbank meiner demokratischen Galeere… also an meinem Schreibtisch; zum Glück nicht angekettet.
Flurim ist in Shtime im Kosovo zuhause. Wenn wir beinander sitzen, sage ich „Kosova“. Es könnte mir nicht entfallen, diese kleine Geste anzubringen. Zu viele von seinen Leuten sind in jenem Krieg umgekommen. Die Geste besagt: Ich habe verstanden, woher du kommst und was es an dir angerichtet hat.
Obwohl mir am Balkan allerhand vertraut erscheint, bleibt mir doch vieles rätselhaft. Wenn zum Beispiel albanische Kosovaren sich selbst „Shqiptarët“ nennen, dann klingt es für meine Ohren völlig gleich wie das südslawische „Šiptar“, das allerdings als unerträgliches Schimpfwort empfunden würde. Nuance, Differenzen…
Flurim ist wesentlich jünger als ich und grundsätzlich ein gutgelaunter Kerl. Aber manchmal huscht ein Schatten über sein Gesicht und sein Mund scheint kurz, still, einen Schmerz auszudrücken. Er hatte diesmal von Amsterdam aus den Weg nach Hamburg genommen, von da weiter in den Süden. Ein kleine Tour, um seine Geschäfte voranzubringen.
Flurim versorgt Tierärzte im Kosovo mit Rindersamen. Die Landwirtschaft ist ein wichtiges Fundament in dieser so gründlich ruinierten Gegend, wo Menschen heute darum ringen, daß die Wirtschaft wieder an Kraft gewinnt und die Menschen ihre Zuversicht erneut finden können.
Als Flurim vom Krieg heimgekommen war, hatte er Freunde auf dem Schlachtfeld zurücklassen müssen, Familienangehörige verloren. Einmal führte er mich auf eine Anhöhe über den Ort, wo seine Leute einen Tag, nachdem er das Dorf verlassen hatte, massakriert worden waren.
In dieser Stunde war er dann plötzlich nach einem „Sorry, Martin.“ zur Seite gegangen, offenbar unfähig, im Moment weiterzusprechen.
Wir haben in den Jahren, die wir uns kennen, sehr unterschiedliche Momente miteinander erlebt. Manchmal schien es ihn verrückt zu machen, wenn er an serbische Leute dachte. Doch er ist für meine Neugier immer offen geblieben.
Ich habe ihn mehr als einmal gefragt: „Wie schafft man es, in einen Kampf zu gehen?“ Sie waren ja Freischärler. Aufständische. Schlecht bewaffnet, keine Logistik, so standen sie hoch gerüsteten militärischen Verbänden Serbiens und Polizeieinheiten gegenüber.
„Wenn du keine Zukunft hast, Martin, und wenn du nur mehr mit dem Rücken zur Wand stehst, dann würdest du auch kämpfen.“ Da glaubt man, leicht zustimmen zu können. Aber ich weiß es nicht.
Flurim erzählte mir von einer Begegnung mit italienischen Einheiten, ich nehme an: KFOR, welche über die zerlumpten Gestalten mit ihrer erbärmlichen Ausrüstung entsetzt gewesen sind; daß die so gegen serbisches Militär losziehen. Er erklärte mir, was dabei der Punkt gewesen sei.
Flurim sagte, es hätte die Aufstände und die Toten unter ihnen geben müssen, damit die Welt anfängt, von ihnen Notiz zu nehmen. Da wäre kein anderer Weg geblieben.
So vieles ist ungewiß. Aber eines ist sicher: Flurim wird nie mehr ohne seine Albträume sein. Was ihn hauptsächlich bewegt? „Daß meine Kinder eine Zukunft haben.!
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