Weihnachtsgeschichte: Der Jammerlappen

(c) Oliver Class

Es war einmal ... ein Mann, der den ganzen Tag lang nur jammerte. Das Essen schmeckte einmal zu fad, dann war es ihm wieder zu salzig. Draußen war es entweder zu kalt oder zu heiß. Er steckte grundsätzlich jeden Tag im Stau und im Radio wurden nur Lieder gespielt, die er nicht mochte.

Der Mann lebte alleine, keine Frau hatte es bisher mit ihm ausgehalten. Und keine Frau konnte es ihm bis jetzt recht machen. Die eine war zu dick, die andere zu dünn, die eine war zu schlampig, die nächste hatte einen Putzfimmel. Immer wieder schaffte er es, etwas zu finden, was ihm nicht passte an einem Menschen, einer Situation, der Zeitung, dem Fernsehprogramm – egal, worum es sich handelte, er fand garantiert einen guten Grund zum Jammern.

So konnte das nicht weitergehen. Der Mann stand auf der Himmels-Jammer-Liste ganz weit oben. Niemand auf der Erde sollte sein ganzes Leben mit Jammern verbringen. Da schellen im Himmelreich die Alarmglocken, so ein Leben ist eine totale Verfehlung und muss korrigiert werden.

In den Raunächten wird den Menschen durch Träume oder Eingebungen geholfen, ihre Fehler zu erkennen, um es in Zukunft besser machen zu können. In besonders hartnäckigen Fällen wie bei unserem notorischen Jammerer reicht das aber oft nicht aus. Träume werden ignoriert und Eingebungen erst gar nicht wahrgenommen. Doch auch diesem Mann sollte in den Raunächten geholfen werden.

So wurde wieder einmal Wichtel Edeke zur Erde geschickt, um bei dem Mann nach dem Rechten zu sehen. In ganz seltenen Fällen wird es notwendig, dass Wichtel sich sichtbar machen. Das ist jedes Mal eine große Ausnahme und bedarf einer eigenen Genehmigung. Bei unserem Jammerer halfen keine unsichtbaren Wichtelkräfte mehr, er brauchte unbedingt eine sichtbare Wichtelbegleitung.

Wichtel Edeke war ziemlich aufgeregt. Auch für ihn war es das erste Mal. Noch nie hatte er sich vor einem Menschen sicht- bar gemacht. In den Raunächten reiste er schließlich zur Erde, um dem jammernden Mann einen Besuch abzustatten.

Wie es sich bei einem offiziellen Besuch gehörte, läutete Wichtel Edeke an der Tür. Das war normalerweise auch nicht seine Art, aber bei diesem Besuch war eben alles anders. Der Mann öffnete und konnte niemanden sehen. Als er die Tür wieder schließen wollte, machte sich Wichtel Edeke bemerkbar: „Hallo da oben! Hier bin ich, hier unten auf der Fußmatte!“

Der Mann erschrak, als er den knapp zehn Zentimeter großen Wichtel Edeke entdeckte. „Ich bin Wichtel Edeke. Der Himmel schickt mich, um dir zu helfen. Darf ich hereinkommen?“

„Bist du nicht ein wenig klein für einen Wichtel? Ich habe mir Wichtel immer etwas größer vorgestellt, so um die zwanzig Zentimeter sollte ein Wichtel schon groß sein!“ Der Mann konnte es einfach nicht lassen, nichts passte ihm, nicht einmal die Größe von Wichtel Edeke!

„Kein Problem, ich kann mich auch größer machen, wenn dir das lieber ist“, gab dieser schlagfertig zur Antwort.

Der Mann war neugierig geworden und ließ den besonderen Gast eintreten. Zu- allererst erklärte Wichtel Edeke dem Mann so schonend wie möglich, warum er zu ihm gekommen war. Und – was für eine Überraschung, der Mann freute sich! Sein ewiges Jammern ging ihm selbst schon auf den Keks. Sofort jammerte er Wichtel Edeke an, dass er immer so viel jammere ... Doch unser Wichtel war gut vorbereitet und hat- te einen Plan. Während der gesamten Raunächte wollte er den Mann begleiten, um ihm in jeder Jammer-Situation hilfreich zur Seite zu stehen. Am nächsten Tag sollte die Wichtelmission beginnen.

Der Mann musste zur Arbeit, er hatte sich zwischen den Feiertagen nicht freigenommen. Eine gute Gelegenheit für Wichtel Edeke, mit seinem Wichtelprogramm zu starten. Schon in der Früh beim Aufstehen beklagte der Mann, A) dass er noch müde war, B) dass ihm das Kreuz wehtat und C) dass er nicht gut geschlafen hätte.

Wahrlich ein schwerer Fall, dieser Mann! Und nun hatte er auch noch jemanden, den er anjammern konnte. Doch unser Wichtel wusste, was zu tun war. Er machte dem Mann eindrucksvoll klar, dass A) er zu einer Minderheit auf der Erde gehörte, die eine fixe Anstellung hatten und dadurch in der Früh auch einen guten Grund zum Aufstehen, B) dass seine Kreuzschmerzen von seinem Bewegungsmangel und seiner schlechten Sitzhaltung herrührten und C) dass er wiederum zu einem auserwählten Kreis von Menschen auf der Erde gehör- te, die im stolzen Besitz eines Bettes waren.

Der Mann staunte sehr über die Schlagfertigkeit des Wichtels und fing an nachzudenken. So hatte er seine bedauernswerte Situation noch gar nicht gesehen, dass es Menschen auf der Welt gab, denen es noch viel, viel schlechter ging als ihm ...
Nichtsdestotrotz nörgelte er im Badezimmer gleich weiter, die Zahnpastatube war fast leer und die Klopapiervorräte neigten sich auch dem Ende zu. Was für ein Elend! Wichtel Edeke belehrte den Mann, dass Vorratshaltung von Alltagsgegenständen kein Fehler sein konnte, und dass er beim nächsten Einkauf vielleicht einmal daran denken sollte, was er alles zur Reserve anlegen könnte.

Schon wieder hatte der Wichtel recht, so viele Kleinigkeiten im Leben des Mannes summierten sich zu seinem persönlichen Jammertal. Wichtel Edeke schrieb alles auf, was notwendig war. Er legte eine Anti-Jammer-Liste an

Über Weihnachten hatte der Mann ein bisschen zugenommen, die Hose kniff beim Anziehen, was natürlich schon wieder An- lass zum Lamentieren gab. Die Wichtel-Ant- wort darauf lautete: Sport betreiben und damit gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Sport hilft nicht nur gegen den Feiertagsspeck, sondern auch gegen die Kreuzschmerzen. Dem Mann war schon ganz schlecht von so vielen guten Ratschlägen. Wo sollte das noch enden?

Beim Frühstück schlug der Mann die Zeitung auf und regte sich gleich wieder über die Politiker auf. „So eine Schweinerei, die planen schon wieder eine Steuererhöhung!“
Wichtel Edeke rief ihm in Erinnerung, dass mitunter er es gewesen war, der diese Regierung gewählt hatte, und dass er es auch war, der sich nie um etwas kümmern wollte und wichtige Entscheidungen am liebsten anderen Menschen überließ. Das war jetzt echt gemein, nicht einmal über die Politiker durfte der Mann mehr jammern! Doch Wichtel Edeke nahm seinen Auftrag sehr ernst, immerhin schickte ihn der Himmel!

Und weiter ging es im alltäglichen Jammerprogramm. Der Kaffee schmeckte schal und der Toast war verbrannt, wie jeden Morgen eben. Wichtel Edeke schüttelte den Kopf, schön langsam war er sich seiner Mission nicht mehr so ganz sicher. Es kam ihm so vor, als wollte der Mann gar nicht mit dem Jammern aufhören, immerhin hatte er sich den Kaffee selbst gekocht und auch den Toast selbst zubereitet.

Das viele Zetern musste irgendeine Funktion haben, nur welche? Wichtel Edeke dachte nach. Konnte es sein, dass der Mann von irgendetwas ablenken wollte mit seiner Jammerei?

Mit dem Auto ging es in Richtung Innenstadt zur Arbeitsstätte des Mannes. Das Auto sprang erst beim dritten Versuch an und das Jammern des Mannes hatte sich in ein ausgewachsenes Fluchen verwandelt. Im Radio lief ein Song, den der Mann nicht ausstehen konnte. Wichtel Edeke hatte mit seinen guten Ratschlägen aufgehört und angefangen, den Mann zu beobachten. So einfach wäre es gewesen, das Radio ab- zudrehen oder auf einen anderen Sender zu wechseln. Aber nein, der Mann hörte sich den Song in voller Länge an, schimpfte dabei über den Sänger und dass er seine krächzende Stimme nicht aushalten könne, und dieser schnulzige Text, also wirklich!

Wichtel Edeke wollte dieser Jammerei auf den Grund gehen. Seine Lösungsansätze und Tipps kratzten bis jetzt nur an der Oberfläche des Problems. Mit seinen Wichtelkräften hatte er Zugang zum Unterbewusstsein des Mannes und stellte fest, dass das Jammern ein Ablenkungsmanöver war, um nicht selbst kritisiert zu werden.

Als Kind war der Mann oft gehänselt worden wegen seiner dicken Brille und seiner Segelohren. Mittlerweile trug er Linsen und die abstehenden Ohren wurden von den Haaren gut verdeckt. Doch die Angst saß noch immer tief. Eines Tages bemerkte der Mann, dass er die Menschen von seiner Person ablenken konnte, indem er sich über alles und jeden beschwerte. Er hatte damit ein probates Mittel gefunden, sich vor der Kritik anderer zu schützen.

Durch die viele Jammerei hatte er sich zeit seines Lebens nicht gerade beliebt gemacht, niemand wollte mehr ernsthaft etwas mit ihm zu tun haben, er hatte sich durch sein Verhalten zum Außenseiter entwickelt. Doch Wichtel Edeke beschloss, dass sich das jetzt ändern sollte.

Er begann, dem Mann Komplimente zu machen, über seine sichere Fahrweise und über das ordentlich gebügelte Hemd, das er trug. Diese netten Aussagen verwirrten den Mann, das war er nicht gewohnt. Er freute sich spontan und vergaß einen Moment lang sogar zu jammern.

Wichtel Edeke machte weiter, den ganzen Tag lang lobte er den Mann, auch für Kleinigkeiten. Am Ende des Tages schlug er vor, der Mann könnte versuchen, auch seine Mitmenschen zu loben, ihnen Komplimente zu machen, anstatt sie immer nur anzujammern. Das war neu für den Mann. Auf alle Fälle hatte sich etwas verändert, das Jammern wurde weniger und das Wohlgefühl steigerte sich.

Wichtel Edeke begleitete den Mann sieben Tage lang. Er lobte ihn, gab Verbesserungsvorschläge, schrieb alles auf und motivierte den Mann, Kontakt zu seinen Mitmenschen zu suchen. Am besten gelang ihm das mit Leuten, die ihn noch nicht kannten, die noch keine Vorurteile hatten und die nicht gleich einen großen Bogen um ihn machten.

In einem Kaffeehaus überredete Wichtel Edeke den Mann, eine überaus attraktive Dame anzusprechen. Sie saß alleine an einem Tisch. Der Mann setzte sich zu ihr und begann ein Gespräch. Er lobte ihren schicken Pullover und den guten Geschmack bei der Tortenauswahl. Er bestellte ebenfalls eine Schwarzwälder Kirschtorte, und so begannen die beiden, miteinander zu plaudern.

Der Mann fand Gefallen daran, den Menschen Komplimente zu machen. Doch was würde passieren, wenn Wichtel Edeke nicht mehr an seiner Seite war, wenn da niemand mehr war, der ihn lobte und ihm sagte, was er gut gemacht hatte?

Wichtel Edeke hatte vorgesorgt. Nicht nur eine „To-Do-Liste“ drückte er dem Mann zum Abschied in die Hand, sondern auch eine „Das-machst-du-wirklich-gut-Lis- te“. Diese Liste sollte sich der Mann jeden Abend vor dem Schlafengehen – und wenn notwendig, auch gleich in der Früh – durchlesen, um seine positiven Eigenschaften nicht zu vergessen.

Denn das war die größte Angst des Mannes, dass auch heute noch irgendjemand glauben könnte, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Er hatte sich selbst ins Abseits gejammert, doch durch Wichtel Edekes Hilfe, hatte er gelernt, was es heißt, als Mensch voll und ganz akzeptiert zu werden. Wichtel Edeke gab ihm das Gefühl, in Ordnung zu sein, und dieses Gefühl gab der Mann jetzt auch an andere Menschen weiter.

So tauschte er sein Jammern gegen Komplimente ein und fand mit der Zeit neue Freunde. Wichtel Edeke beobachtete ihn noch lange Zeit vom Himmel aus und freute sich über seine Fortschritte. Und wenn er nicht gestorben ist, dann macht der Mann auch heute seinen Mitmenschen noch schöne Komplimente und vergisst dabei ganz, sie anzujammern.

Information zur Autorin und dem Buch

Nina Stögmüller

Die begeisterte Schreiberin und (Koch-)Buchautorin arbeitet seit 17 Jahren im Pressebereich. 1999 wurde sie leitende Redakteurin im OÖ Landespressedienst. 2005 wechselte sie in die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit der Oberösterreichischen Landesmuseen und seit Anfang 2008 ist sie Pressesprecherin bei der VKB-Bank. Nina Stögmüller ist stellvertretende Sprecherin des Frauennetzwerkes im OÖ Presseclub und begeisterte Netzwerkerin.

Informationen zum Buch

Titel: Raunächte erzählen: Ein Lese- und Märchenbuch zu den zwölf heiligen Nächten im Jahr
ISBN: 978-3-7025-0684-1
Umfang: 156 Seiten
Preis: € 22,00
Shop: http://www.pustet.at

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