Erfahrungsbericht
Fluchthilfe: "Krieg mit Waffen führt doch keiner mehr"

An der polnisch-ukrainischen Grenze um drei Uhr am Morgen, als Zwicker auf die Familien wartete. | Foto: Privat
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Jörg Zwicker aus Gratwein-Straßengel hat zwei Müttern und ihren Kindern aus der Ukraine geholfen, dem Krieg zu entfliehen und Sicherheit in Österreich zu finden. Mit MeinBezirk.at spricht er über die Geschehnisse an der polnisch-ukrainischen Grenze, Nachbarschaftshilfe, den Streit unter "Brüdern" und auch über Hoffnung und Sorgen.

GRAZ-UMGEBUNG. Erst vor gut drei Wochen war Jörg Zwicker in Kyiv, um gemeinsam mit ukrainischen Musikerkolleg:innen ein Projekt auf die Beine zu stellen, das Musik und die gemeinsame Freude daran in Zukunft in den Fokus rücken sollte. Der Cellist und Dirigent aus Rein war vor Ort, als noch von schwierigen Verhältnissen im Osten des Landes, von einem "Pulverfass" die Rede war, als das Wort Krieg aber noch niemanden in den Sinn gekommen wäre.

"Einen großen Krieg mit Waffen, den führt doch heutzutage keiner mehr, das haben wir gesagt", hörte er von Freunden. "Man darf nicht vergessen, viele Ukrainer sind als Russen geboren. Seit 1991 (Anm. d. Red.: seit dem Zerfall der Sowjetunion) war die Unabhängigkeit ein gutes Gefühl, aber Russland war für viele der 'große Bruder'. Es gibt Familien, in denen sich der eine als Ukrainer, der andere als Russe sieht."

Eine österreichisch-ukrainische Freundschaft, die sich durch ein gemeinsames Musikprojekt zeigen sollte: Erst vor Kurzem war Jörg Zwicker (l.) in der Ukraine, um darüber mit Musikerkolleg:innen zu sprechen. | Foto: Privat
  • Eine österreichisch-ukrainische Freundschaft, die sich durch ein gemeinsames Musikprojekt zeigen sollte: Erst vor Kurzem war Jörg Zwicker (l.) in der Ukraine, um darüber mit Musikerkolleg:innen zu sprechen.
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Ob die aktuelle Situation als "Bruderkrieg" verstanden wird? "Ja", antwortet Zwicker und fügt hinzu: "Ich habe an der Grenze niemanden gesehen, der geweint hat, denn die Menschen sind unter Schock. Sie verstehen nicht, was gerade passiert. Für die Familie ist es unfassbar, dass man sie als Flüchtlinge bezeichnet." 

Die Realität vor Augen

Als erste Unruhen im Land aufkamen, war der Plan, Freunden zu helfen, sie am Flughafen abzuholen. Binnen kürzester Zeit änderte sich die Lage – von Unruhen zum Konflikt, vom Konflikt zum Krieg. "Wir haben keinen Moment darüber nachgedacht, wir mussten helfen." Ursprünglich war geplant, auch die Väter nach Österreich zu holen. Relativ rasch ließ die Regierung aufgrund des verhängten Ausnahmezustandes allerdings verlautbaren, dass Staatsbürger im Alter von 18 bis 60 Jahren das Land nicht verlassen dürfen. Das Dekret zur Generalmobilmachung.

"Meine Motivation zur Hilfe entsteht durch eine sehr enge berufliche und freundschaftliche Beziehung zu Kyiv und den dortigen Musikern. Ich habe nichts anderes getan, als wohl jeder für seine engen Freunde tun würde.
Viel mehr beeindruckt bin ich von all jenen, die hier Hilfe angeboten haben, ohne jemanden zu kennen oder einen persönlichen Bezug zu haben. Was ich selbst früher nur aus den Medien kannte, diese Bilder von Menschen, die auf der Flucht sind, ist Realität geworden. Das ist nicht zu begreifen."

Zwicker und eine der beiden Mütter waren vorab tagelang in Kontakt, um den passenden Zeitpunkt zur Abreise an der Grenze nicht zu verpassen. Um mehrere Personen nach Österreich bringen zu können, hat er vorab via Facebook nach einem entsprechenden Pkw gesucht – und diesen gefunden. Mit Kindersitzen, Proviant, frischem Wasser und Nahrungsmitteln sowie Decken, Kleidung , Windeln und mehr war er gut zwölf Stunden unterwegs, um um drei Uhr morgens an der polnisch-ukrainischen Grenze zu warten, nachdem ein paar Polizeisperren durchquert wurden.

Einige Polizeikontrollen mussten passiert werden, ehe die Menschen abgeholt werden konnten. | Foto: Privat
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Nachrichten von Zerstörungen

Die Kinder im Alter zwischen elf Monaten und sechs Jahren sind mit ihren Vätern, welche die Ukraine ja nicht verlassen durften, nach Lviv (Lemberg) gefahren. "Am ersten Tag war es in fast durchgehender Stau im Schritttempo. Nicht besonders angenehm, wenn der Konvoi eventuell beschossen wird", erzählt Zwicker. Einige Kilometer vor der ukrainischen Grenze musste das Auto abgestellt werden, um zu Fuß weiterzugehen. "Gepäck war da nicht viel dabei – wenn man Kleinkinder an der Hand oder auf der Schulter trug."

Bei Minus neun Grad machte man sich also zu Fuß auf den Weg zur polnisch-ukrainischen Grenze. Ein Parkplatz für Menschen, die auf eine Weiterreise warteten, war organisiert worden. 

"Ich durfte die Grenze nicht passieren, daher habe ich eine eineinhalbstündige Schlafenszeit gemacht, ehe ich die Nachricht bekam, dass die Familie vereint sei. Um sechs Uhr morgens trafen wir uns und machten uns gleich auf den Heimweg. Nach 27 Stunden waren wir wieder bei mir zu Hause, wo eine Familie nun einmal ein paar Tage bleiben und zur Ruhe kommen soll. Die andere Familie fuhr ich nach Klosterneuburg."

Während der gesamten Fahrt erhielt der Reiner noch Hilfsangebote von vielen Freunden, aber auch von unbekannten Menschen, die etwas unternehmen wollten. "Neben mir und hinter mir saßen zwei Mütter, die permanent Nachrichten von Zerstörungen, Videos von Schüssen etc. bekamen."

An der Grenze wurden Menschen abgeholt ... | Foto: Privat
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Solidarität und Hoffnung

Gestern zu Mittag gab es in Gratwein-Straßengel Suppe – nach ukrainischem Rezept. Aus dem Wohnzimmer ist ein großes Spielzimmer geworden. Ein wenig hat man sich gemeinsam schon die Gegend angeschaut und versucht, diesen Krieg und wie es dazu kam zu verstehen.

"Es gibt Erleichterung, aber auch viel Unsicherheit. Es muss zuerst alles gestoppt werden, bevor wir von Hoffnung reden können. Ich merke, die Familie braucht noch Zeit, bis sie wirklich realisiert, was gerade passiert." Dennoch gab und gibt es positive Momente: "Immer, wenn die Familien ein Zeichen der Solidarität sehen, weil zum Beispiel gezeigt wird, wie irgendwer die ukrainische Flagge zeigt. Das sind Momente, in denen sie merken, dass sie nicht alleine sind."

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