Österreichweites Pilotprojekt
„Antisemitismus ist omnipräsent“
INNSBRUCK. Mit 1. September 2021 schloss die Pädagogische Hochschule Tirol einen österreichweit einzigartigen Kooperationsvertrag mit "erinnern.at" und dem Holocaust-Education Institut des BMBWF.
Antisemitismus ist, dies zeigen aktuelle Studien und Berichte, wieder deutlicher sichtbar. Besonders der starke Anstieg an antisemitischen Vorfällen ist besorgniserregend. Für die Umsetzung der Antisemitismusstrategie des Bundes und des Fortbildungsauftrags durch das BMBWF sind mit dieser Kooperation an der PHT entsprechende Fort- und Weiterbildungsangebote für Lehrer sowie Forschungs- und Entwicklungsarbeiten vorgesehen. Den Auftakt der Zusammenarbeit bildete ein Zeitzeuginnengespräch, an dem über 80 Interessierte teilgenommen haben.
Einzigartige Kooperation
Der Kooperationsvertrag zwischen PHT und "erinnern.at" ist ein Pilotprojekt und österreichweit einzigartig. Als erste Pädagogische Hochschule Österreichs gewinnt die PHT damit die langjährige Fachexpertise, die direkt in die Lehrerfort- und -ausbildung wirkt. Holocaust-Education wie Antisemitismusprävention werden zudem als neuer Forschungsschwerpunkt an der PHT verankert. Besonders erreicht werden sollen Berufsschulen und Polytechnische Schulen, aber auch Volksschulen.
„Die Pädagogische Hochschule Tirol hat mit erinnern.at, dem wichtigsten Partner in diesem Bereich, eine Kooperation geschlossen, um das bestmögliche Fort- und Weiterbildungsprogramm für Lehrer hinsichtlich Holocaust-Education zu sichern. Damit setzt die Hochschule Maßstäbe in der Umsetzung der Aufträge aus der Nationalen Strategie gegen Antisemitismus sowie des Bildungsauftrags durch das BMBWF. Der wieder aufsteigende Antisemitismus in der Gesellschaft zeigt die Dringlichkeit dieser Aufgabe. Entsprechende Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen tragen Expertise und Kompetenz schließlich direkt in den Unterricht ”
, erklärt Irmgard Plattner, Vizerektorin für Forschungs- und Entwicklungsaufgaben an der PHT.
Bedarf ist vorhanden
Dass der Bedarf an gezielten Bildungsmaßnahmen an Schulen groß ist, bestätigt auch Claus Oberhauser, Leiter des Instituts für Forschung und Entwicklung an der PHT:
„Diverse Studien in den letzten Jahren zeigen klar auf, dass einerseits das sogenannte Faktenwissen von Schülern in Hinsicht auf den Themenkomplex “Antisemitismus-Holocaust” weniger wird, andererseits dass es neue Formen der Vermittlung in der Aus-, Fort- und Weitbildung von Lehrpersonen braucht.”
"erinnern.at" gewinnt mit der Kooperation direkten Zugang zu jenen Zielgruppen, die noch starken Bedarf im Bereich Holocaust-Education und Antisemitismusprävention zeigen: Volksschüler, Berufsschüler, Schüler Polytechnischer Schulen. In der Praxismittelschule werden neue Unterrichtsmaterialien erprobt, evaluiert und zum Einsatz im Unterricht freigegeben.
Antisemitismusstrategie des Bundes
Im Januar 2021 verabschiedete die österreichische Bundesregierung eine Nationale Strategie zur Bekämpfung des Antisemitismus, die auch international große Beachtung fand. Ziel der Strategie ist, „Antisemitismus in allen seinen Formen einzudämmen und Bewusstsein für das Erkennen von alltäglichem Antisemitismus zu schaffen.“ Unter den beschriebenen Maßnahmen befinden sich acht im Themenfeld Bildung, Ausbildung und Forschung. Zu den Aktivitäten zählen etwa die Erarbeitung eines Qualifikationen- und Maßnahmenkatalogs für eine angemessene Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften in den Bereichen Antisemitismusprävention, Holocaust und Nationalsozialismus sowie antirassistischer Bildungsarbeit oder die Evaluierung und Qualitätssicherung der aktuellen Ausbildungs-Curricula.
Meilenstein
„Die Kooperation zwischen erinnern.at und der Pädagogischen Hochschule Tirol ist ein Meilenstein in der Umsetzung dieser Maßnahmen. Sie ermöglicht die konkrete Implementierung von Forschungsergebnissen und Empfehlungen im Bereich der Holocaust-Education und Antisemitismusprävention in die schulische Praxis. Ich erwarte mir hier wegweisende Ergebnisse über das Bundesland Tirol hinaus“
, so die Obfrau von "erinnern.at" Martina Maschke, Abteilungsleiterin im BMBWF.
Die Kooperation von PHT und "erinnern.at", die seit 1.9.2021 auf zwei Jahre vereinbart wurde, hat vier zentrale Ziele:
- Planung und Durchführung von Fortbildungsveranstaltungen für Lehrer:innen an Volksschulen, Berufsschulen und Polytechnischen Schulen unter Berücksichtigung der Antisemitismusstrategie der Bundesregierung
- Konzeption eines 2-semestrigen Hochschullehrgangs „Holocaust-Education“ für alle Lehrpersonen in Tirol
- Entwicklungs- und Forschungsarbeit: a) Entwicklung von schularten- und schulstufenspezifischen Unterrichtsmaterialien, b) Projekt DERLA: Digitale Erinnerungslandschaft Österreich
- Entwicklung von Vorschlägen zur Implementierung in den Curricula der Lehrerausbildung
Holocaust-Education – auch in der Volksschule?
Damit entsteht auch ein neuer Forschungsschwerpunkt zur Holocaust-Education und Antisemitismusprävention an der PHT unter Leitung von Horst Schreiber: “Holocaust-Education in der Primarstufe ist weitgehend Neuland. Auch für Berufsschulen und Polytechnische Schulen braucht es viel mehr Lernangebote. Daher wendet sich der neue Forschungsschwerpunkt gezielt an Lehrer:innen der Volksschulen, Berufsschulen und Polytechnischen Schulen. Lehrkräften wird Grundlagenwissen vermittelt sowie Lernangebote, Unterrichtsmaterialien und -methoden bereitgestellt, wie etwa die Arbeit mit Video-Interviews, Lern- und Web-Apps. Aktuell arbeiten erinnern.at und die PHT an einem österreichweiten Großprojekt zur Digitalisierung von Erinnerungskultur: DERLA.
Projekt DERLA
"erinnern.at" und die PHT digitalisieren alle Erinnerungszeichen zu Verfolgung und Widerstand im Nationalsozialismus in Tirol. Sie schaffen eine georeferenzierte „Erinnerungskarte Tirol“, die auf unterschiedlichen Endgeräten läuft und für mobile Endgeräte optimiert ist. Die Karte wird kurze Sachtexte, Biografien, Bild-, Ton-, Videodokumente enthalten. "erinnern.at" und die PHT erarbeiten Vermittlungsangebote zu einzelnen Gedenkzeichen und in Form von Rundgängen für alle Bezirke und Opfergruppen.
2-semestriger Hochschullehrgang
Alle entwickelten Materialien fließen schließlich gebündelt in die Entwicklung eines neuen 2-semestrigen Hochschullehrgangs zur Holocaust-Education für alle Lehrpersonen in Tirol. Ziel dieses Lehrgangs ist es, Lehrpersonen zu befähigen, wissenschaftlich und methodisch fundiert sowie kompetent über Nationalsozialismus, Holocaust, Antisemitismus und Rassismus zu unterrichten. Ein inhaltlicher Schwerpunkt sind außerschulische Lernerfahrungen lokal, national und international.
erinnern.at
ist das Institut für Holocaust-Education des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF). erinnern.at fördert die Vermittlung von historischem und methodisch-didaktischem Wissen sowie die Reflexion seiner Bedeutung für die Gegenwart. Geschäftsführer des Instituts ist Patrick Siegele, Obfrau Martina Maschke. erinnern.at bietet Lehrerfortbildungen zu den Themen Holocaust, Nationalsozialismus, Antisemitismus und Rassismus. Darüber hinaus entwickelt das Institut zu diesen Themen Unterrichtsmaterialien, Lernwebsites und Lern-Apps.
_erinnern.at_ arbeitet als dezentrales Netzwerk, in jedem Bundesland sind Netzwerkkoordinatoren Ansprechpartner für Fragen, Projekte und Fortbildungen im Bereich der historisch-politischen Bildung.
Auftakt mit Zeitzeuginnenveranstaltung
Am Montag, den 18.10.2021 wurde Marion Fischer (Wien/Innsbruck, Italien), Zeitzeugin des Holocaust, zum Podiumsgespräch mit anschließender Diskussion an die PHT geladen.
„Es war schon damals kein Honiglecken, Flüchtling zu sein, wie auch heute nicht“
, betont Marion Fischer, geboren im Burgenland, 1938 gezwungen zur Flucht, aufgewachsen in Lagern des faschistischen Italien und knapp der Deportation ins KZ Auschwitz entkommen. Vier Jahre lang ist sie mit ihrer Familie in der Schweiz geduldet, dann wird sie nach Meran abgeschoben, ab 1951 ist Tirol ihre neue Heimat. 1988 verlässt Marion Fischer zeitweilig Innsbruck – Unbekannte hatten ihr kleines Geschäft in Innsbruck mit einem Judenstern beschmiert, sie am Telefon grob beschimpft. Seit Jahren besucht Marion Fischer als Zeitzeugin Schulen in Tirol und Italien:
„Es ist meine Pflicht, jungen Menschen meine Erfahrungen weiterzugeben und über mein Leben als jüdischer Flüchtling zu sprechen.“
Über 80 Interessierte waren an die PHT gekommen, um das Zeitzeuginnengespräch zu erleben. Marion Fischer beeindruckte die Teilnehmer:innen mit ihrer Lebensgeschichte ebenso wie mit ihrer unglaublichen Vitalität, ihrem Humor und ihrem unerschütterlichen Glauben ab das Gute.
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