Südtiroler Siedlungen
Zwischen „Blut- und-Boden-Ideologie“ und vorbildhaften Lösungen

Die Südtirol Siedlung in der Speckbacherstraße
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"Entweder ins Deutsche Reich auswandern und dort in einem gemeinsamen attraktiven Raum siedeln oder unter Verzicht auf ihr Deutschtum im von Italien annektierten Südtirol bleiben." Das Optionsabkommen von 1939 bewog 75.000 Südtirolerinnen und Südtiroler, ihre Heimat zu verlassen. Dafür wurden in Tirol in 23 Orten Südtiroler Siedlungen errichtet. Die Buchpräsentation "südtiroler siedlungen – condominium in mind" am 7.3. bietet ein tollen Blick auf die besonderen Bauten.

INNSBRUCK. Die Geschichte der über 3.000 Wohnungen in den Südtiroler Siedlungen ist verbunden mit den politischen Geschehnissen im Jahr 1939. Unter dem Druck von Mussolini  entschieden sich 85 Prozent der Südtiroler für die Auswanderung nach Deutschland. Rund 75.000 Südtirolerinnen und Südtiroler haben ihre Heimat verlassen. Zirka 25.000 Südtiroler Optantinnen und Optanten kehrten nach dem Krieg wieder in ihre alte Heimat zurück. Die Geschichte der Südtiroler Siedlungen ist verbunden mit Familienschicksalen, bewegten menschlichen Erlebnissen und ideologischer Politik. Aber auch architektonisch haben die Siedlungen in den 23 Tiroler Gemeinden viel zu erzählen.

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Optionsabkommen

Da die Südtiroler nach der Angliederung an Italien allen Zwängen der Faschisten zum Trotz ihre deutsche Sprache und Kultur nicht aufgegeben hatten, beabsichtigte Mussolini mit Unterstützung von Hitler, die Südtiroler zum Auswandern zu bewegen.

Nach der Unterzeichnung des Optionsabkommens in Berlin am 23. Juli 1939 wurde den Südtirolern die Option eingeräumt: "Entweder ins Deutsche Reich auswandern und dort in einem gemeinsamen attraktiven Raum siedeln oder unter Verzicht auf ihr Deutschtum im von Italien annektierten Südtirol bleiben."

Die Südtirol Siedlung in Pradl

Unter diesem Druck entschieden sich 85 Prozent der Südtiroler für die Auswanderung nach Deutschland. Auf Grund der Kriegsereignisse kam es schon bald zu einer Verzögerung der Auswanderung. Tatsächlich fuhren rund 75.000 Südtiroler mit Hab und Gut über den Brenner. In aller Eile mussten neue Siedlungen für die Südtiroler Optanten gebaut werden. In Österreich - es hieß ab 15. Oktober 1939 Ostmark – wurden in 130 Gemeinden Häuser mit insgesamt 13.500 Wohnungen gebaut.

Die Südtirol Siedlung in Pradl, die Bauarbeiten der NHT an der rechten freien grünen Fläche sind bereits im Gange.
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23 Orte

Die Siedlungen in Tirol mit 3.232 Wohnungen befanden sich in 23 Orten:

Absam, Brixlegg, Flirsch, Hall, Imst, Innsbruck, Jenbach, Jochberg, Kematen, Kitzbühel, Kramsach, Kufstein, Landeck, Lienz, Reutte, Schwaz, St. Johann in Tirol, Telfs, Völs, Wattens, Wörgl und Zams.

Die Südtirol Siedlung in der Speckbacherstraße
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Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehrten zirka 25.000 Südtiroler Optanten wieder in ihre alte Heimat zurück. Für alle anderen waren die Südtiroler Siedlungen die Basis für ein neues Leben in der Fremde. Seit der Errichtung dieser Siedlungen hat sich der Bestand der Anlagen zwar  verändert, das architektonische und raumplanerische Konzept ist aber noch sichtbar. Die architektonische Oberaufsicht über den Bau der Siedlungen hatte damals der aus Dresden stammende Architekt Helmut Erdle.

Südtiroler Siedlung in Hall

Architektonischer Blick

Die fast einheitliche Ausdrucksweise der Architektur dieser Siedlungen, die ihr Erscheinungsbild prägen, kann man heute als Ausdruck einer „Blut- und-Boden-Ideologie“ kritisieren. Man muss aber bedenken, dass hinter dieser Gestaltung romantisch-alpiner  Prägung die Absicht stand, die Südtiroler sollten sich in den Häusern zu Hause fühlen. Da die  lokal mitarbeitenden Architekten formal ansprechende Arbeit leisteten, zeigen die Bauten im  Detail viel überraschend gute Lösungen. Vor allem in der Gestaltung von Plätzen und Straßenräumen ist vieles vorbildhaft. Die beispielhaften Bauten und Ensembles sind aus  heutiger Sicht eine gelungene raumplanerische und architektonische Großtat, da Menschen  aus ganz verschiedenen Orten kommend in Dorf- und Stadterweiterungsgebieten  anzusiedeln waren.

Südtirol Siedlung in Hall

Dokumentation

Ein unverhoffter  Fund von Plänen, ergänzt durch eine systematische Fotokartei, ist nun die Grundlage einer lückenlosen, bisher nicht veröffentlichten Dokumentation der Südtiroler Siedlungen. An die 1.000 Fotodokumente von 1986-1987 wurden  von Architekt Bernard Köfer (1946 -2003) auf seinen Informationsfahrten angefertigt. Zu  diesem Zeitpunkt waren vor der großen Erneuerungswelle die meisten Siedlungen im Originalbestand erhalten. Die Bilddateien bieten daher authentische Informationen über die bestehenden Siedlungsorte. In Anknüpfung an den Siedlungsbau der 1930er-Jahre hat das Wohnen im Kontext mit dem Grünraum als Selbstversorger das Überleben ermöglicht. Es bieten sich in Ableitung wertvolle Impulse für zukunftsweisende Wohnformen, die nach der Corona-Pandemie durchaus flexible Grundrisse und zum Innenhof hin zugewandte halboffene Bereiche für neue Arbeitsräume (Smartworking) erlauben. Das umfangreiche Bauten Glossar umfasst neben dem historischen Material auch den aktuellen Bestand von  2022.

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Buchpräsentation

In Folge des Optionsabkommens von 1939 setzte in ganz Österreich, an rund 130 Standorten, ein reger Siedlungsbau für die Südtiroler Auswanderer ein. Auch in Tirol sind die Südtiroler Siedlungen bis heute zur Wohnversorgung wichtige und ortsbildprägende Siedlungsbauten. Das vielschichtige Publikations-Projekt „Südtiroler Siedlungen – Condominium in mind“ arbeitet den umfassenden und großteils unveröffentlichten Fundus auf und zeigt anhand von Plänen aus der Errichtungszeit (1939 -1944) und weiteren Originaldokumenten, sowie den historischen Fotos und aktuellen Bildquellen die verschiedenen Zeithorizonte an einigen ausgewählten Siedlungsstandorten. Die jahrelange Arbeit des Kuratoriums für technische Kulturgüter Bozen/Innsbruck und der Universität Innsbruck, Institut für Baugeschichte, begeht Neuland und trägt zu einer Bewusstseinsbildung bei, die auf die städtebaulichen und architektonischen Qualitäten der Siedlungen ein neues Licht wirft. In einer Zeit der Mobilität und gleichzeitig der Abnabelung werden Südtiroler Siedlungen neu gesehen um deren Bezug zu den Quellen zu finden.

Die Südtirol Siedlung in der Speckbacherstraße
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Was sagt uns die Südtiroler Siedlung als Wohnmodell heute? Wie lassen sich die Bauten behutsam erneuern und unter Beibehaltung ihrer wesentlichen Charakterzüge als Potenzial für heutiges Wohnen verstehen? Antworten darauf finden sich im bearbeiten Material der 560 Seiten umfassenden Dokumentation und dem digitalen im Aufbau befindlichen Archiv, das allgemein zugänglich sein wird.

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wittfrida mitterer

Nachhaltiges Bauen und Technikgeschichte sind zwei Schwerpunkte von Wittfrida Mitterer. Die 1968 in Bozen geborene Wissenschaftlerin lehrt an den Universitäten Innsbruck und Rom. Sie leitetet Architekturprojekte für die EU, etwas zum Wiederaufbau des Dorfes Onna bei L’Aquila. Seit 1990 ist sie Geschäftsführerin des regionalen Kuratoriums für die Erhaltung technischer Kulturgüter Bozen und Herausgeberin der Architekturzeitschrift "Bioarchitettura / Abitare la Terra".

Buchpräsentation in Innsbruck

buchpräsentation "südtiroler siedlungen – condominium in mind"
Begrüßung: Arno Ritter
Buchpräsentation: Wittfrida Mitterer, Horst Hambrusch
Statement: Hanno Vogl-Fernheim
Di. 7.3. um 19 Uhr im aut. architektur und tirol im Adambräu, Lois Welzenbacher Platz 1
mehr unter https://aut.cc/veranstaltungen/suedtiroler-siedlungen

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