Novemberpogrom
Als das jüdische Leben in der Steiermark verstummte

Die zerstörte Grazer Synagoge nach dem Pogrom 1938 – gut zu sehen ist nicht nur, dass die Kuppel und die Dächer fehlen, sondern auch, dass hier Feuer gelegt wurde. | Foto: UMJ Graz
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  • Die zerstörte Grazer Synagoge nach dem Pogrom 1938 – gut zu sehen ist nicht nur, dass die Kuppel und die Dächer fehlen, sondern auch, dass hier Feuer gelegt wurde.
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Als die Menschen im deutschsprachigen Raum heute vor exakt 85 Jahren aufgewacht sind, hat sich die Welt verändert: In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 leitete die Reichspogromnacht beziehungsweise der Novemberpogrom des nationalsozialistischen Regimes offiziell und ohne vorgehaltener Hand die Diffamierung, Verfolgung, Vertreibung, Deportierung und Ermordung der Jüdinnen und Juden ein. Wir geben euch einen Überblick über die Situation der jüdischen Gemeinden in der Steiermark.

STEIERMARK. Lange war der Begriff "Reichskristallnacht" für die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 im allgemeinen Sprachgebrauch. Auch wenn es eine Bezeichnung ist, die als zynisch betrachtet ist, so spiegelt sie doch wieder, was geschah: "Reichskristallnacht" – das bezog sich auf all die Scherben von zerstörten Fenstern und Auslagen, die hinterlassen wurden, als Gotteshäuser, Geschäftsräumlichkeiten und sogar Privatwohnungen/-häuser zerstört wurden.

Synagogen wurden dort erbaut, wo es ein reges jüdisches Leben gab. | Foto: Stadtarchiv Graz
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Die Reichspogromnacht wurde damals als spontaner Volkszorn definiert, tatsächlich ist sie aber sowohl die Spitze der seit Jahren vorherrschenden antisemitischen Stimmung sowohl im Deutschen Reich als auch auf österreichischem Boden – das reicht zurück bis in die Habsburgermonarchie – als auch der Beginn der öffentlichen Ausgrenzung der Jüdinnen und Juden, ein geplantes Vorgehen.

  • Als Herschel Grynszpan, ein Pole mit jüdischem Hintergrund, am 7. November 1938 in Paris auf Ernst von Rath, dem Legationssekretär der Deutschen Botschaft schoss, hatte man offiziell einen Anlass, eine Rache für den Mord. Von Rath verstarb zwei Tage später.

Eingeweiht zum Neujahr

Auch die Grazer Synagoge wurde zerstört. Synagogen wurden dort erbaut, wo es eine große oder zumindest größere jüdische Gemeinde gab, immerhin durfte der Weg zum Gotteshaus am Sabbat nicht weit sein. Erbaut wurde die Synagoge in der Landeshauptstadt nach der Aufhebung der "Judensperre" – also ein Gesetz, das Jüdinnen und Juden die Ansammlung als Gemeinschaft in den Städten untersagte – zwischen 1890 und 1892. Die Einweihung erfolgte im Rahmen des Neujahrsfestes Rosch ha-Schana. Kurze Zeit darauf wurde ein jüdischer Friedhof und eine Zeremonienhalle errichtet.

Die Gemeinde konnte also wachsen. Wobei: 1147 wurden Jüdinnen und Juden erstmals in der Steiermark urkundlich erwähnt, im Jahr 1261 sogar in Graz. Bis zur Aufhebung der ersten "Judensperre" im Jahr 1439 war die jüdische Gemeinde räumlich rund um die heutige Herren,- Stempfer- und auch Mesnergasse zu Hause. Danach wurden sie wieder vertrieben und kamen erst 1848 durch das kaiserliche Patent 1849 und einer Gleichstellung aller Bürgerinnen und Bürger wieder zurück. 

Auf diesem Grundstein wurde der Neubau errichtet. | Foto: Jorj Konstantinov
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Verbote, Vertreibung, Plünderung

Am 12. März 1938 marschierten die Nationalsozialistinnen und -sozialisten in Österreich ein und dem doch regen jüdischen Leben in der Steiermark war ein Ende gesetzt. Schon knapp zehn Tage später wurden anhand von Mitgliederverzeichnissen die Anzahl der Jüdinnen und Juden erfasst, erste Maßnahmen, sie aus dem öffentlichen Leben auszugrenzen wurden getroffen und umgesetzt: Im Mai wurde es jüdischen Kindern untersagt, die Schule zu besuchen, Vereine wurden aufgelöst und man durfte im "Bad zur Sonne" nicht mehr Baden, in den Park nicht mehr verweilen. 

  • Alleine in Graz kam es im Zuge der Reichspogromnacht zur Verhaftung von rund 300 jüdischen Männern, die in das Konzentrationslager Dachau deportiert wurden. Weitere 50 Männer aus der restlichen Steiermark erduldeten dasselbe Schicksal. Sie alle wurden vorerst unter Arrest gestellt und am 11. November mit den Zügen in Konzentrationslager gebracht. 
  • Auch in Leoben, Judenburg sowie Bad Gleichenberg und Knittelfeld kam es zur Zerstörung von jüdischen Einrichtungen und Geschäften. 
  • Schon Anfang 1940 galt Graz als "judenrein" – sowohl die Synagoge als auch der Friedhof und die Zeremonienhalle wurden vom 9. auf den 10. November niedergebrannt. 
  • Als der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, kurz SD, bei der Grazer Synagoge ankam, waren die Innenräumlichkeiten bereits zu einem großen Teil zerstört und Brand gelegt. Der SD versuchte, Kulturgüter noch zu retten, um sie in Beschlag zu nehmen.
Geschäfte wurden geplündert und zerstört, die Menschen aus ihren Wohnungen gezerrt, die Gedenkstätten in Brand gesetzt .... | Foto: AFP / picturedesk.com
  • Geschäfte wurden geplündert und zerstört, die Menschen aus ihren Wohnungen gezerrt, die Gedenkstätten in Brand gesetzt ....
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Das Totengebet, zum neunten Mal

Ein Beispiel für die Taten in dieser Nacht: Vor dem Haus in der Radetzkystraße 8 erinnert ein Stolperstein an den damaligen Landesrabbiner David Herzog. Im Jahr 1908 übernahm er das Rabbinat für die Steiermark, Kärnten und Krain, 1934 wurde ihm das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich verliehen – und nur vier Jahre später, am 21. März 1938, wurde sein Haus durchsucht und Herzog verhaftet. Heute ist wissenschaftlich auch belegt, dass der Landesrabbiner in der Reichspogromnacht, wie viele andere Jüdinnen und Juden, misshandelt wurde. Im Jänner 1939 emigrierte er mit seiner Frau nach England, wurde im 1943 allerdings in das Todeslager Sobibor deportiert. Er überlebte den Holocaust, verstarb aber im März 1946 in Oxford.

"Vor einem Heuschober hießen sie mich, niederknien, und flankierten mich, je einer zur Rechten, der andere zur Linken mit Revolvern in der Hand. Ich verrichtete still, jetzt das neunte Mal, das Totengebet[,] und nun fingen sie an, in mich einzuhämmern. Kopf, Rücken, Seiten, alles wurde weich in mir geschlagen. Noch hörte ich, wie die Bestien sagten, 'der braucht keinen Schuss mehr'. Was dann mit mir geschehen ist, weiß ich nicht. Ich fiel in eine Bewusstlosigkeit und so mochte ich etwa eine halbe Stunde so dagelegen sein. Als ich erwachte, hatte ich rasende, nicht zu beschreibende, furchtbare Schmerzen und ich war noch immer benommen und wusste nicht, wo ich bin und was mit mir geschehen war."
Landesrabbiner David Herzog, Quelle: erinnern.at

Die Gemeinde wächst wieder

21. Oktober 1998 wurde beschlossen, der Landeshauptstadt und der wieder wachsenden jüdischen Gemeinde eine neue Synagoge zu errichten. Und zwar dort, wo die alte Synagoge stand. Knapp 10.000 Ziegel des alten Gotteshauses wurden für den Neubau verwendet – ein Zeichen von einst und jetzt. Schülerinnen und Schüler aus drei Grazer Schulen haben geholfen, indem sie die Ziegel reinigten.

Elie Rosen, Präsident der jüdischen Gemeinde Graz | Foto: Jorj Konstantinov
  • Elie Rosen, Präsident der jüdischen Gemeinde Graz
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Eine Besonderheit: Die tragende Konstruktion der verglasten Kuppel besteht aus zwölf Stahlsäulen, sie symbolisieren die zwölf Stämme Israels (sie bilden das Volks Israel), die durch Bögen verbunden einen Davidstern zeigen. Die fünfteilige Glaskonstruktion steht für die Tora, die fünf Bücher Mose.

Knapp 200 Mitglieder zählt die Gemeinde aktuell. Präsident der jüdischen Gemeinde ist Elie Rosen, er ist zugleich Vizepräsident der Israelitischen Religionsgesellschaft Österreichs und auch Präsident der traditionellen, orthodoxen jüdischen Gemeinde Sloweniens.

Mehr dazu:

"Feuerwehrmann" blickt auf die Synagoge Graz
Gesetz für Aberkennung von Ehrenzeichen
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