Bildungs-Experte
„Distance-Learning ist völlig absurd“

 „Dass unter den CoV-Zwangsmaßnahmen „business as usual“ an den Schulen gespielt wird und man erwarte, die üblichen Lehrinhalte und Mengen den Schülern zumuten zu können, ist schlichtweg absurd.“ Bildungswissenschaftler Stefan Hopmann zum Distance-Learning und Schichtbetrieb an Österreichs Schulen.  | Foto: Pixabay/zapCulture (Symbolbild)
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  • „Dass unter den CoV-Zwangsmaßnahmen „business as usual“ an den Schulen gespielt wird und man erwarte, die üblichen Lehrinhalte und Mengen den Schülern zumuten zu können, ist schlichtweg absurd.“ Bildungswissenschaftler Stefan Hopmann zum Distance-Learning und Schichtbetrieb an Österreichs Schulen.
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„Alle Schüler gehen ins Distance-Learning“. Man erinnert sich an die von Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP) bei zahlreichen Pressekonferenzen getätigten Worte: Distance-Learning. Doch was genau das bedeuten solle, blieb er schuldig. Und so setzte jede Schule, jeder Lehrer in Österreich nach eigenem Ermessen das sogenannte „Distance-Learning“ um. Die Folge nach etwa einem Jahr „Homeschooling“: Chaos pur. Verzweifelte Eltern, gestresste Lehrer und völlig demotivierte Schüler.

ÖSTERREICH. Wir erinnern uns an die Studie der Donau Uni Krems, die jüngst für eine Schrecksekunde im medialen Corona-Blätterwald sorgte: Jeder sechste Schüler hat suizidale Gedanken, der Großteil leidet unter massiven depressiven Verstimmungen. Demotivation, Hoffnungslosigkeit haben sich längst breitgemacht. Die entsprechenden klinischen Einrichtungen sprechen laut aus, was Sache ist: Triagen, das Auswählen, wer eine Behandlung bekommt, und wer nicht, findet längst statt, und zwar bei den Jüngsten unter uns, den Kindern, die keine psychologischen Betreuung bekommen und die wir in ihrer Verzweiflung damit sich selbst überlassen müssen.

Unterricht alleine im Kinderzimmer

Ein Schelm, der nun denke, es könne auch am aktuellen „Bildungssystem“ liegen, das großteils in Österreich im sogenannten „Distance-Learning“ läuft, sprich: Videounterricht, oder Arbeitsblätter, die unbeaufsichtigt in Selbständigkeit erarbeitet werden müssen, und im schlimmsten Fall auch noch alleine korrigiert werden sollen. Durchgenommen wird dem Lehrplan zufolge der neue Lehrstoff, wie etwa das zweistelliges Dividieren mit Dezimalzahlen, die Berechnung der Hypotenuse, die Present Progressive oder die deutsche Grammatik, um nur Hauptfächer zu nennen; Alles neue Inhalte, die sich der Schüler von der Volksschule über die Unterstufe bis zur Oberstufe selbst beibringen sollte.

„Schlichtweg absurd“

Was sagt eigentlich die Wissenschaft dazu? Kann Lernen so überhaupt stattfinden? Bildungswissenschafter Stefan Hopmann von der Uni Wien ist ein Experte auf dem Gebiet, und er kritisiert, was sich gerade hinter verschlossenen Kinderzimmertüren, bei beengten Wohnverhältnissen auf Küchen- oder am Couchtischen, im besten Fall mittels eigenem Laptop, im schlimmsten Fall mit dem Handy eines Elternteils, unter dem Decknamen „Distance-Learning“ in Österreich abspielt. „Dass unter den CoV-Zwangsmaßnahmen „business as usual“ an den Schulen gespielt wird und man erwartet, die üblichen Lehrinhalte und Mengen den Schülern zumuten zu können, ist schlichtweg absurd.“

Bildungswissenschaftler Stefan Hopmann zum Distnace-Learning und Schichtbetrieb: „Unter diesen Bedingungen "business as usual“ zu spielen und zu erwarten, dass man im Kern die selben Inhalte und die selben Mengen verarbeiten kann, ist völlig absurd. Die Schule müsse jetzt weniger Stoff vermitteln, dafür Erfolgserlebnisse ermöglichen, denn wenn Jugendliche das Vertrauen in ihre Fähigkeiten verlieren, hat das langfristig negative Folgen.“ | Foto: Stefan Hopmann/Uni Wien
  • Bildungswissenschaftler Stefan Hopmann zum Distnace-Learning und Schichtbetrieb: „Unter diesen Bedingungen "business as usual“ zu spielen und zu erwarten, dass man im Kern die selben Inhalte und die selben Mengen verarbeiten kann, ist völlig absurd. Die Schule müsse jetzt weniger Stoff vermitteln, dafür Erfolgserlebnisse ermöglichen, denn wenn Jugendliche das Vertrauen in ihre Fähigkeiten verlieren, hat das langfristig negative Folgen.“
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„Schule lässt sich online nicht simulieren“

Hopmann sieht sowohl das Homeschooling als auch den Schichtbetrieb aus Expertensicht äußerst kritisch. „Man kann nicht erwarten, dass Lernen so problemlos funktioniert. Schule funktioniert vor allem deswegen, weil ich mit Anderen lerne. Schule ist gemeinschaftliche Verständigung über Sachverhalte. Darüber stabilisiert sich mein individuelles Lernen, darüber gewinne ich mein Lernselbstvertrauen. Und dieser Prozess lässt sich online nicht oder bei gelegentlichen Treffen im Klassenraum mit der halben Klasse nicht simulieren.“

„Neuen Stoff so zu lernen ist wider jedes wissenschaftliche Wissen“


Zu der gängigen Schulpraxis in der Pandemie, dass sich die Schüler neuen Lehrstoff selbst aneignen sollen, der dann bei Tests und Schularbeiten abgeprüft wird, hat der Bildungswissenschaftler eine klare Haltung: „Das ist völlig absurd und wider jedes wissenschaftliche Wissen und wider jedes schulpraktische Wissen.“

„Das hat langzeitlich negative Folgen“

Der Experte verwendet deutliche Worte Richtung Ministerium: „Unter diesen Bedingungen "business as usual“ zu spielen und zu erwarten, dass man im Kern die selben Inhalte und die selben Mengen verarbeiten kann, ist völlig absurd. Die Schule müsste jetzt weniger Stoff vermitteln, dafür Erfolgserlebnisse ermöglichen, denn wenn Jugendliche das Vertrauen in ihre Fähigkeiten verlieren, hat das langfristig negative Folgen.“

Seit März 2020 sind die Schulen meist im Distance-Learning oder im Schichtbetrieb, der Bildungswissenschaftler Stefan Hopmann hat dazu eine klare Meinung:  „Dass unter den CoV-Zwangsmaßnahmen „business as usual“ an den Schulen gespielt wird und man erwarte, die üblichen Lehrinhalte und Mengen den Schülern zumuten zu können, ist schlichtweg absurd.“ | Foto: Scharinger
  • Seit März 2020 sind die Schulen meist im Distance-Learning oder im Schichtbetrieb, der Bildungswissenschaftler Stefan Hopmann hat dazu eine klare Meinung: „Dass unter den CoV-Zwangsmaßnahmen „business as usual“ an den Schulen gespielt wird und man erwarte, die üblichen Lehrinhalte und Mengen den Schülern zumuten zu können, ist schlichtweg absurd.“
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„Kind muss neu erlernten Stoff selbst korrigieren“

In der Redaktion häufen sich indes von verzweifelten Eltern geschilderte Praxis-Fälle des "Distance Learnings". So berichtet ein Elternteil zum Fach Mathematik, 1. Klasse Gymnasium: „Die Kinder bekommen Arbeitsaufträge über den neu zu erlernenden Stoff via Lernplattform als pdf. Das pdf müssen sie dann alleine ausdrucken und alleine selbst „erledigen“. Die Lösungen werden vom zuständigen Lehrer einige Tage später auf der Lernplattform hochgeladen. Nun müssen die Schüler selbständig ihre Arbeiten alleine korrigieren. Bei einem MS-Teams Meeting fragt der Lehrer, ob alles verstanden wurde, nun könnten die Schüler Fragen stellen.“

„Englischunterricht mittels Arbeitsblättern“

Ein anderer Elternteil berichtet zum Fach Englisch aus der Unterstufe: „Die Schüler hatten in der lebenden Fremdsprache Englisch noch nie Online-Videounterricht. Der Unterricht in der lebenden Fremdsprache Englisch findet ausschließlich via Arbeitsblätter statt, die die Kinder selbständig alleine machen müssen und anschließend auch selber korrigieren müssen. Die Lösungen werden hochgeladen.“ Ein Elternteil berichtet: „Meine Tochter (Unterstufe) hat die Aufgaben als .jpg und nicht als .pdf hochgeladen und damit im falschen Format abgegeben. Das wurden mit: „Hausaufgaben wurden nicht erledigt“ gewertet.“ Ein weiterer Elternteil berichtet, dass sich der Schüler von einem "Sehr Gut" im ersten Semester auf ein "Nicht genügend" im zweiten Semester verschlechtert hat. Man habe bei der Schule zwecks dem für solche Fälle vom Ministerium zugesagten Förderunterricht nachgefragt, doch laut Schule würde eine Förderunterricht an der Schule nicht abgehalten.

Kind muss wegen Homeschooling Klasse wiederholen

Ein weiterer Elternteil berichtet, ihr Kind habe jeden Tag Onlineunterricht nach Stundenplan, sitze also sechs Stunden vor dem PC, sie sehe das kritisch. Ein anderer Elternteil berichtet, ihr Kind habe in der ganzen Woche maximal drei Online-Videostunden. Eine Mutter berichtet, dass ihre Tochter aus nicht näher genannten Gründen auch am Schichtbetrieb in der Schule nicht teilgenommen hat, aber sehr wohl Homeschooling mache und im Distance-Learning zuhause lerne. Nun habe es ein Schreiben der Schule gegeben, dass besagte Tochter am Ende des Schuljahres eine Prüfung in allen Fächern über den gesamten Jahresstoff ablegen müssen, da sie sonst „nicht bewertet“ werden könne und damit das Jahr wiederholen müsse.

„Unterricht als Austausch von Arbeitsblättern und Lösungen ist keiner“

Zu den Einzelfällen möchte sich der Bildungswissenschaftler nicht äußern, „zumal wenn mir nur die Wahrnehmung der einen Seite bekannt ist“, so Hopmann. Aber er fügt hinzu, dass ihm genannte Fälle nicht unbekannt und dass ihm noch viele weitere, viel prekärere Fälle bekannt seien. „Auf einer allgemeinen Grundlage gehalten“, so Hopmann: „Ein Unterricht, der nur aus dem Austausch von Arbeitsblättern und Lösungen besteht, ist keiner.“

„Eine Katastrophe für die Kinder“

Und weiter: „Genau genommen rechnen solche Lehrkräfte implizit damit, dass gegebenenfalls irgendwer im Umfeld der Schülerinnen und Schüler den ausgebliebenen Unterricht ersetzt. Das funktioniert für diejenigen, die das bekommen können, und ist eine Katastrophe für alle, die solches Glück nicht haben.“

„Fremdsprachenunterricht für Anfänger im Online-Betrieb sehr schwierig“

Zum Erlernen einer Fremdsprache, gerade für Anfänger, hat der Bildungswissenschaftler klare Worte: „Dass man so keine Fremdsprache lernen kann, es sei denn, es spricht ein Elternteil selbige daheim, versteht sich von selbst. Weiters muss man noch hinzufügen, dass gerade der Fremdsprachenunterricht für Anfänger im Online-Betrieb ziemlich schwierig ist.“ Zum Umfang des Online-Unterrichts sagt der Experte, dass der als solcher nicht das Entscheidende ist, sondern die Qualität dessen, was da angeboten werde.

„Dahinter steckt ein grundlegendes Problem“

Der Experte bekräftigt, dass es sich dabei um allgemeine Aussagen und keine Stellungnahmen zu den konkreten Einzelfällen handelt, die er aus der Ferne nicht beurteilen könne. Aber der Bildungswissenschaftler spricht einen Missstand in Österreichs Bildungswesen offen aus: „Dahinter steckt ein grundlegendes Problem. In Österreich herrscht immer noch ein Grundverständnis vor, nachdem eine Lehrkraft innerhalb ihres jeweiligen Unterrichts allein entscheiden kann, was angemessen ist oder nicht. Selbst Schulleitungen können auf den Unterricht ihrer Lehrkräfte nur begrenzt einwirken.“

„Lehrkräfte können tun und lassen was ihnen beliebt“

Die Folgen daraus sind dramatisch für die Schüler. Hopmann: „Das führt nicht zufällig dazu, dass Lehrkräfte, die der gegenwärtigen Situation nicht wirklich gewachsen sind, gleichwohl tun und lassen können, was ihnen beliebt.“

„Vermisse klare Vorgaben vom Ministerium“

Der Bildungswissenschaftler vermisst auch klare Vorgaben aus der entsprechenden politischen Behörde und ortet strukturelle Versäumnisse: „Es fehlen zudem klare Ansagen vom Ministerium, wie unter den gegenwärtigen Bedingungen sinnvoll mit Bewertungen umgegangen werden kann. Da ist also niemand, der eine klare Grundlage hätte, einer Lehrkraft zu sagen: So geht das nicht. Das mündet dann in hunderte solcher Fallgeschichten misslungenen Unterrichts.“

Wer hat Lehrer unterstützt?

Auch Lehrer wurden in der Situation alleine gelassen, wie Onlineunterricht abgehalten werden könne. So haben sich online-affine Informatik-Lehrer leichter getan als manche andere. Laut Hopmann haben alle Probleme im Distance-Learning nur am Rande mit einem allfälligen Mangel einer Einschulung in Homeschooling zu tun. Hopmann: „Die meisten Probleme entstehen, wie auch in den meisten hier genannten Beispiele, aus einem weit grundsätzlicheren Missverständnis über die Aufgaben des Unterrichts und die Rollen der Beteiligten. Die werden nur unter den gegenwärtigen Bedingungen nur noch viel deutlicher, sind aber allen aus der Schulpraxis auch so schon vertraut.“

"Allermeisten Lehrer strengen sich sehr an"

Wichtig hinzuzufügen ist, dass sehr viele Lehrer nach Kräften ihrer Lehrverpflichtung  nachkommen. Hopmann: "Mir ist es wichtig hinzuzufügen, dass sich die allermeisten Lehrkräfte wirklich anstrengen und alles tun, was sie können."

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