WOCHE-Familienflüsterer
"Wohlbefindensdiktatur" und die Schattenseiten des Epigenetikbooms

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Epigenetik ist populär und in aller Munde. Die Freudenbotschaft lautet: Wir sind nicht unseren Genen ausgeliefert, sondern wir haben es in der Hand, was aus uns wird. Aber was ist Epigenetik? Das erklärt Psychologe und Familienflüsterer Philip Streit und gibt Tipps, wie man das Wissen rund um die Epigenetik für ein gelingendes Leben nutzen können.

Genau übersetzt bedeutet Epigenetik "Neben der Genetik". Die bisherigen Ergebnisse dieser noch relativ jungen Wissenschaft besagen, dass unsere Gene nicht automatisch aktiviert werden, sondern es dafür einen sogenannten epigenetischen Code braucht. Diese epigenetischen Codes sind kleine Molekülverbindungen, die auf unserer DNA sitzen. Mit so einem epigenetischen Code kommen wir auf die Welt. Dabei übernehmen wir laut neuestem Wissenschaftsstand die Codes unserer Großelterngeneration. Diese Codes sind schon während der Schwangerschaft beeinflussbar und dann später auch durch unser eigenes Verhalten und unsere Denkweise, so die ersten Erkenntnisse.

Hoffnung auf Medikamente

Über Ernährung, Lebensweise, Bewegung und Co können wir unsere Genexpression bestimmen.
Das klingt fantastisch! Aber eigentlich sind diese Erkenntnisse nicht neu. Wir wissen seit jeher, dass ein ausgeglichener Lebenswandel, positive Beziehungen und dergleichen Einflüsse auf unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit haben. Durch die Epigenetik wird dies jetzt neurobiologisch und wissenschaftlich unterlegt. Zum Beispiel setzt man jetzt große Hoffnungen darauf, Medikamente zu finden, die durch epigenetische Codes sogenannte Tumor-Surpressorzellen in Krebspatient*innen wieder aktivieren oder hofft auf neue Mittel bei Depression und Übergewicht. Ermutigende Ergebnisse von Steve Cole und Barbara Fredrickson zeigen weiters, dass eine positive Lebensweise zum einen Positivität und Zugewandtheit, zum anderen das Immunsystem stärken.

Die Schattenseite

Zugleich gibt es eine ganze Reihe von problematischen populärwissenschaftlichen Ratgebern darüber wie man sich jetzt am besten epigenetisch verhält oder epigenetisch gesund lebt. Zum Beispiel sollte laut jenen der Mann vor der Zeugung eines Kindes nicht rauchen, da das angeblich beim Kind Asthma erzeugen könnte. Unabhängig davon, dass dies falsch ist, da epigenetische Veränderungen ja nur auf die übernächste Generation vererbt werden, machen solche Botschaften unnötig viel Stress. Düstere Gefahren werden auf die Wand gemalt, denn nur das Beste soll zum Tragen kommen und dabei hilft die Epigenetik.

Das ist einerseits gefährlich nahe an bereits bekannten Rassenideologien und macht andererseits Stress und Druck sich richtig zu verhalten und keinen Fehler zu machen. „Wir müssen“ anstatt „wir wollen“. Doch damit geht das Wichtigste verloren, was wir für eine gute Entwicklung brauchen und was die seriöse Epigenetikforschung auch immer wieder betont: unser freie Wille und unser Handeln aus uns selbst heraus.

Tipps

Hier nun einige Tipps, wie Sie das neue Wissen rund um die Epigenetik gut für ein gelingendes Leben nutzen können.

1. Werden Sie sich bewusst, was Sie wollen und was Sie müssen. Gelingen wird Ihnen das, was Sie aus innerem Herzen heraus wollen.
2. Schaffen Sie sich gute Umgebungen. Dort entstehen gute Gefühle, die auch für Ihre epigenetischen Codes wichtig sind.
3. Pflegen Sie liebevolle, gute Beziehungen. Das macht Sie glücklich und hilft Ihnen beim Erlangen der notwendigen Selbstdisziplin, die Sie zweifellos immer wieder brauchen.
4. Übertreiben Sie es nicht mit der „gesunden Lebensweise“. Auf die Dosis kommt es an und nicht auf das Exzessive oder eine Fitness- und Gesundheitsdiktatur.
5. Genießen Sie die kleinen Veränderungen. Werden Sie langsamer und halten Sie inne.
6. Kooperieren Sie mit anderen Menschen. Zwei Hirne denken mehr als eines.
7. Schlafen Sie ausreichend, am besten acht Stunden täglich. Der Schlaf reinigt Geist und Körper.
8. Seien Sie achtsam und ruhig gegenüber sich selbst wie auch gegenüber anderen Menschen. Unterstellen Sie Ihnen gute Motive.

So entwickeln Sie die Leidenschaft für ein positives und ausgewogenes Leben mit positiven Verhaltensweisen, ausreichend Bewegung, innerer Ruhe und ausgewogener Ernährung. Das wird Ihre epigenetischen Codes freuen.

Der Experte

Philip Streit ist klinischer Gesundheitspsychologe, Psychotherapeut, Lebens- und Sozialberater.
Seit 1994 leitet er das „Institut für Kind, Jugend und Familie“ in Graz, das auch jetzt für Sie unter 0316/77 43 44 da ist.
Web: www.ikjf.at
Leser-Fragen bitte an: redaktion.graz@woche.at

Psychologe und WOCHE-Familienflüsterer Dr. Philip Streit beantwortet jede Woche brisante und spannende Familienfragen.  | Foto: Jorj Konstantinov
  • Psychologe und WOCHE-Familienflüsterer Dr. Philip Streit beantwortet jede Woche brisante und spannende Familienfragen.
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