Interview Weltflüchtlingstag
Augenzeuge Moria: "Jedes Menschenrecht gebrochen"

Kampfsportweltmeister Ronny Kokert berichtet von menschenunwürdigen Zuständen in Flüchtlingslagern.
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Ronny Kokert schlich sich in die Flüchtlingslager in Griechenland ein und berichtet zum Weltflüchtlingstag von menschenunwürdigen Bedingungen. Er fordert die österreichische Politik auf, endlich Menschen aus dem Lager zu evakuieren. In Wien unterrichtet er Kampfkunst für Flüchtlinge.

ÖSTERREICH. Die Flüchtlingslager in Moria und Kara Tepe zu betreten, geschweige denn die Zustände dort zu filmen, ist nicht erlaubt. Davon lässt Ronny Kokert sich nicht abhalten. Der Kampfsportweltmeister schlich sich in die Lager und berichtet von furchtbaren Zuständen. Am Weltflüchtlingstag am Sonntag fordert er Europa und Österreich auf, nicht länger wegzuschauen.

RMA: Wann waren Sie das letzte Mal in einem Flüchtlingslager?

Ronny Kokert: Ich war im Februar in Moria und jetzt war ich zwei Mal auf Kara Tepe. Das letzte Mal war ich vergangenes Wochenende dort und bin gerade erst am Donnerstag zurückgekommen.

Es gibt starke Sicherheitsvorkehrungen. Wie sind Sie hineingekommen?

Das erste Mal bin ich erwischt worden. Da wurde auch mein Handy abgenommen und meine Fotos gelöscht, aber ich hatte eine kleine Kamera versteckt bei mir. Beim ersten Mal in Moria war gerade eine Demo. Die habe ich ausgenützt, um hineinzugehen. Beim letzten Mal habe ich mir mit ein paar Burschen ausgemacht, dass sie einen Kreislaufkollaps vortäuschen und ich gleichzeitig reingehe. Gerade als sie das gemacht haben, ist ein Militärtransporter vorbeigefahren, hinter dem ich mich verstecken konnte. Hinausgekommen bin ich, indem ich mich gemeinsam mit einer Ärztin, die dort gearbeitet hat, als Paar getarnt habe.

Die Lager unterliegen starken Sicherheitsvorkehrungen. Nur mit Tricks schaffte Kokert es, hinein zu gelangen.  | Foto: Ronny Kokert
  • Die Lager unterliegen starken Sicherheitsvorkehrungen. Nur mit Tricks schaffte Kokert es, hinein zu gelangen.
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Was waren Ihre Eindrücke?

Furchtbar. Die Leute leben im Zelt am Boden, haben einmal am Tag spärlich zu essen, teilen sich Duschen und WC zu hundert und sind völlig verloren. Niemand will natürlich, dass man das sieht. Sie dürfen das Lager auch nur zu bestimmten Zeiten verlassen. Jeder hat eine Nummer und nur bestimmte Nummern dürfen zu gewissen Zeiten hinaus. Manchmal ist man auch den ganzen Tag eingesperrt. Im Winter Regen und Schnee. Es wird dort jedes Menschenrecht gebrochen.

Ronny Kokert verteilte im Flüchtlingslager Spenden an Familien mit kleinen Kindern.  | Foto: Ronny Kokert
  • Ronny Kokert verteilte im Flüchtlingslager Spenden an Familien mit kleinen Kindern.
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Wie sieht es aus mit den unbegleiteten Minderjährigen?

Es sind viele dort. Es gibt große Zelte, in denen bis zu zweihundert Männer untergebracht sind. Das sieht aus wie ein großes Bierzelt. Die Nerven liegen komplett blank. Kinder laufen herum, völlig apathisch. Die meisten klopfen sich mit der Faust auf den Kopf und sind schwer traumatisiert. Weinen habe ich dort kein Kind gesehen, denn in diesem traumatisierten Zustand weinen sie nicht.

Wie verbringen sie den Tag?

Sie rennen unbeaufsichtigt durch das Lager und spielen mit Müll. Sie können aber nicht raus, weil sie hinter Stacheldraht eingesperrt sind. Perspektive haben sie dort keine. Ich habe eine online Spendenaktion gestartet und habe im Lager 15.000€ in Kuverts an Familien mit kleinen Kindern hergegeben. Das hat einigen etwas Hoffnung gegeben und das Gefühl, dass jemand hinschaut. Ich habe dort Bargeld hergegeben, was eigentlich eine heikle Aktion ist, denn man will die Leute nicht gefährden, indem man Bargeld hergibt. Aber ich finde, es ist ein würdevolles Geschenk, weil die Leute dann selbst bestimmen können, was sie damit machen. Sie haben die Freiheit, sich zu kaufen, was sie wirklich brauchen.

In den Flüchtlingslagern befinden sich auch viele Kinder. | Foto: Ronny Kokert
  • In den Flüchtlingslagern befinden sich auch viele Kinder.
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Mit welchem Gefühl sind Sie weggegangen?

Ich bin ja hingeflogen nach Athen und das ging sehr einfach. Da merkt man den Luxus. Man checkt ein im Hotel, sieht die Strandpromenade, die Yachten, die Hauptstadt, in der das Leben pulsiert und fünf Minuten entfernt leben die Leute im Dreck und sterben dort. Das ist nur schwer zu ertragen. Ich versuche mit den Bildern und meinem Buch zu zeigen, dass das keine Statistiken und Zahlen sind, sondern Menschen, die vor Krieg und Terror unter lebensbedrohlichen Umständen geflüchtet sind. Und sie werden jetzt als Faustpfand der europäischen Politik verwendet.

"Diese paar Menschen auf Europa aufzuteilen, wäre ja gar kein Problem.", meint Ronny Kokert.
 | Foto: Ronny Kokert
  • "Diese paar Menschen auf Europa aufzuteilen, wäre ja gar kein Problem.", meint Ronny Kokert.
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Faustpfand?

Die europäische Politik der Populisten verwendet diese Menschen, um ein abschreckendes Bild als Beispiel zu geben. Sie leiden dort, weil Europa überhaupt nicht hinschaut. Diese paar Menschen auf Europa aufzuteilen, wäre ja gar kein Problem.

Was erwarten Sie sich von der österreichischen Politik?

Dass die Hilfslieferungen zumindest mal ankommen. Jene, vor denen der Innenminister letztes Jahr posiert hat, sind nie angekommen. Die österreichischen Politiker müssen ihre Verantwortung sehen und Leute evakuieren. Hier tatenlos zuzuschauen ist für mich der Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung. Wenn die Politiker sagen, sie können nicht helfen, sollen sie zumindest Platz machen für die, die es können. Es gibt genug Zivilbevölkerung, die sich engagiert und genug Institutionen, die Leute aufnehmen würden. Es scheitert vor allem an der Bundesregierung, die sich entgegenstellt. Das ist ein Verbrechen.

Die Hilfslieferungen der Regierung seien nie in Moria angekommen. | Foto: Dragan Tatic/BKA
  • Die Hilfslieferungen der Regierung seien nie in Moria angekommen.
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Seit 2016 unterrichten Sie Flüchtlinge und begleiten sie. Wie hat sich das entwickelt seit damals?

2016 habe ich das Projekt „Freedom Fighters“ gestartet und habe mit Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan und Irak begonnen, Kampfkunst zu trainieren. Ich wusste, ich konnte mit meinem Handwerk etwas beitragen und kann den Burschen zeigen, wie man mit Angst, Wut und Aggression umgehen kann. Im Mittelpunkt steht immer der respektvolle Umgang miteinander und das Prinzip: Kämpfen zu können bedeutet nicht mehr kämpfen zu müssen. Es geht um friedliche Konfliktlösung. Ich habe die Burschen auch zu Asylverfahren und zur Lehrstellsuche begleitet. Ismael ist mittlerweile ausgebildeter Koch im Hotel Sacher. Ich habe sie auch zu Turnieren begleitet. Abbas ist 2019 Weltmeister geworden. Wie dankbar sie sind, wie respektvoll und einander unterstützend, war sehr erfüllend. Letztendlich bin ich draufgekommen, dass sie mir beibringen konnten, worauf es wirklich ankommt.

In Moria und auch in Wien trainiert Ronny Kokert mit Flüchtlingen.
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Wie schauen Ihre Pläne aus?

Ich werde natürlich wieder runterfahren und nicht aufgeben. Ich möchte auch mit meinem Buch möglichst viele Leute erreichen und die Geschichten von den Freedom Fighters erzählen. Ich möchte vor allem Leuten, die keine oder schlechte Erfahrungen mit Flüchtlingen gemacht haben, zeigen, was für tolle Menschen es gibt, die leider alles verloren haben, aber Zuversicht haben.

Was kann man selbst tun?

Es liegt an uns, hinzuschauen und unsere Meinung kundzutun. Unsere Würde liegt dort begraben mitten in Europa. Man kann aufstehen, sich engagieren, mitgehen bei Demonstrationen. Man kann spenden. Man kann vor allem auch vorleben und mit offenen Armen auf Menschen zugehen.

Zur Person: Ronny Kokert, geboren 1970, ist Kampfsport-Weltmeister und Unternehmer. Sein neues Buch "Der Weg der Freiheit" berichtet von seiner Arbeit mit Flüchtlingen. 

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