Eine Stickerreportage
Die stillen Themen des Leibnitzer Hauptplatzes
Sie umgeben uns ständig, jeden Tag gehen wir bei ihnen vorbei, sie sind still und unbemerkt. Drängen sich aber manchmal doch ins Blickfeld, wir nehmen sie als gegeben an, außer wenn sie Störfaktoren sind, dann fallen sie auf. Die Rede ist von Stickern, im Volksmund und vielleicht auch eher geläufig, Pickerln genannt.
Die Vorgeschichte
Im Zuge einer Kooperation mit dem Kunst-, Forschungs und Friedensprojekt „COMRADE CONRADE", erforschten Studierende des Institutes für Europäische Ethnologie und Kulturanthropologie im Rahmen einer Lehrveranstaltung die umstrittene Conrad von Hötzendorf Straße. Der Namensgeber war wesentlich für den Weg in den Ersten Weltkrieg, die brutale Kriegsführung und Übergriffe gegenüber Zivilist*innen mitverantwortlich.
Die Forscher*innen beschlossen verschiedene Studien durchzuführen und Bezug auf diverse Themen, die Straße betreffend zu nehmen. Dies geschah mittels Wahrnehmungsspaziergängen, Befragungen und teilnehmenden Beobachtungen. Es ging darum zu ermitteln, was die CVH bewegt und welche Bandbreite an Thematiken in dieser, für Graz unfassbar geschichtsträchtigen und wichtigen Straße vertreten sind. Eine Kursteilnehmerin hatte die Idee diese Themen in einer Unterkategorie aufzuschlüsseln und sie sozusagen herunterzubrechen, in Form von Straßenstickern.
Ein Statement setzen
Die Umsetzung ihrer Idee gelang eindrucksvoll und inspiriert davon soll diese Herangehensweise nun auf Leibnitz umgemünzt werden. Die Analyse der sich auf diversen Straßenmasten oder Schildern befindlichen Pickerln mag auf den ersten Blick etwas eintönig und langweilig wirken, denkt man jedoch über die Aussagekraft eben jener nach, so lassen sich spannende Erkenntnisse gewinnen. Denn schon alleine das Anbringen der Sticker ist ein (häufig auch politisches) Statement, zumal es gesetzeswirdig ist. Das bedeutet Menschen nehmen bewusst in Kauf dabei erwischt und in Folge dessen abgestraft zu werden.
Beweggründe
Im Umkehrschluss bedeutet das, diese Themen machen etwas mit der Bevölkerung, sie bewegen die Gesellschaft, so sehr, dass sie sogar eine Strafe in Kauf nehmen. Vergleicht man das mit anderen Protestformen, wie beispielsweise einer Demo, bei der in Österreich in der Regel eher selten abgestraft wird und das im Normalfall nur bei grobem Fehlverhalten. So ist dieser stille Protest ein gefährlicherer und in vielen Fällen vielleicht auch ein aussagekräftigerer.
Die auftretenden Thematiken bilden in einigen Fällen sogar den Lebensinhalt dieser Personen ab, den sie somit der breiten Öffentlichkeit zur Schau stellen. Es geht zudem häufig auch um das Bekanntmachen ihrer sogenannten Herzensprojekte, wie die nachfolgende Analyse aufzeigen wird. Werbung für Veranstaltungen wie Maturabälle ist genauso präsent, wie politische Botschaften, die Corona-Pandemie betreffend. Egal um welches Themenfeld es sich handelt, dieses liegt den Menschen am Herzen, denn ansonsten würden sie den durchaus risikoreichen Vorgang des Stadtbeklebens nicht vollziehen.
Die Analyse
Sticker sind zweifellos stille Beobachter des Alltags, sie sehen alles, äußern sich aber nicht. Sie fallen meist nur auf, wenn sie Störfaktoren sind, wie folgendes Beispiel aufzeigen wird. Jemand, der Fan des SK Sturm Graz ist, wird die zahlreich vorkommenden Pickerln dieses Fußballvereines zwar (unterbewusst) wahrnehmen, sich aber nicht daran stören. Diese Person wird diesen Umstand in der Regel mit leichtem Wohlwollen hinnehmen, sieht sie aber einen Sticker des verfeindeten Lokalrivalen GAK, wird ihr dieser auf jeden Fall ins Auge stechen.
Er oder sie muss dabei nicht einmal Missgunst oder ähnliches empfinden, es geht nicht darum, was der Sticker für einen emotionalen Zustand auslöst, sondern, dass er einen auslöst. Themen, die einen oder eine selbst betreffen fallen viel eher auf. Beispielsweise wenn Schüler einen Maturaball planen, werden ihnen Sticker anderer Maturabälle viel eher auffallen als sonst.
Die Auswertung
Um die Aussagekraft des eingangs erwähnten Beispiels der CVH in Graz widerzuspiegeln, musste es auch im Bezirk Leibnitz ein ähnlich besuchter Ort sein. Ein Platz, an dem viele Menschen verkehren und der für viele fixer Bestandteil ihres Alltags ist. Sozusagen ein Ort des Geschehens und welcher Platz eignet sich dafür besser als der Leibnitzer Hauptplatz? Die Suche nach Stickern gestaltete sich nicht allzu schwierig, denn sie sind quasi omnipräsent.
Sturm und GAK dominieren
Dabei dominieren die beiden Grazer Fußballvereine Sturm und GAK, die auch im Bezirk Leibnitz über eine große Anhängerschaft verfügen. Man merkt auch beim Bekleben der Stadt die vorherrschende Rivalität, denn immer wieder werden Pickerln des einen Klubs mit jenen des anderen überklebt. Ein nie enden wollendes Spiel, welches wahrscheinlich noch ewig so weitergehen wird.
Wer sich darüber wundern mag, weshalb die beiden deutschen Fußballvereine Karlsruher SC und KFC Uerdingen mit vielen Stickern vertretend sind, dem, beziehungsweise der sei erklärt, dass die beiden Klubs jeweils zu einem der Grazer Vereine Fanfreundschaften pflegen. Das bedeutet hier herrscht das Gleiche Hin und Her, wie bei Sturm und GAK, bezüglich des Überklebens der Sticker des verfeindeten Klubs.
Auch gesellschaftspolitische Themen sind präsent
Doch nicht nur den Sport betreffende, sondern auch gesellschaftspolitische Themen spielen eine Rolle. Der Verein Freiraum, der sich für sozialen Zusammenhalt, frauenspezifisch-feministische Themen, sowie das Aufbrechen vorhandener patriarchaler Strukturen einsetzt, ist mit vielen Stickern am Hauptplatz vertreten.
Auch Bewegungen, die sehr stark gegen die Impfpflicht eintreten, versuchen auf sich aufmerksam zu machen. Zudem gibt es sogenannte Evergreens, die wohl in jeder Stadt präsent sind und ihre politischen Botschaften verbreiten, wie die Jungen Grünen, Neos oder die KPÖ.
Diverse Veranstaltungstipps
Zudem gibt es eine breite Palette an Veranstaltungen, auf die hingewiesen wird. Beispielsweise sind das Maturabälle oder Konzerte. Hier wird versucht mit modernsten Methoden zu arbeiten, denn häufig befinden sich QR-Codes an Straßenschildern, die eingescannt werden können und zu den jeweiligen Internetseiten führen. Auch verschiedene Bands versuchen mit den Stickern zu werben und somit einer breiteren Masse ein Begriff zu werden.
Conclusio
Die stillen Beobachter des Alltags sind vielleicht gar nicht so still wie es scheint. Betreffen sie doch viele Menschen mit unterschiedlichen Interessen und Einstellungen. Banal scheinende Themen, bekommen aufgrund der Zurschaustellung im öffentlichen Raum plötzlich ein gewisses Gewicht. Obwohl man mit dem Bekleben der Stadt die Regeln bricht, gibt es beim Anbringen der Sticker keine Regeln, jeder Mensch kann sein Anliegen oder seine Meinung im öffentlichen Raum äußern. Zwar leise, aber sehbar.
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