Zwischen Vaterersatz und Vorbild
"Männliche Betreuung ist im SOS-Kinderdorf wesentlich"

Ein starkes Team - nicht nur am Vatertag: Alfred Groß, SOS-Kinderdorfleiter in Graz und Stübing, mit seinen beiden Söhnen Severin und Valentin.  | Foto: Privat
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  • Ein starkes Team - nicht nur am Vatertag: Alfred Groß, SOS-Kinderdorfleiter in Graz und Stübing, mit seinen beiden Söhnen Severin und Valentin.
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Am 12. Juni ist Vatertag: MeinBezirk.at sprach mit SOS-Kinderdorfleiter Alfred Groß über die Bedeutung männlicher Bezugspersonen in den Kinderdorffamilien, Lebensgeschichten, die den Rahmen des Vorstellbaren sprengen und prägende Erinnerungen an seinen eigenen Vater. Außerdem verrät er, warum ihm sein eigener Sohn für den Vatertag heuer keinen Brief schreiben wollte.

STEIERMARK. Seit dem Jahr 1956 wird in Österreich alljährlich am zweiten Sonntag im Juni der Vatertag begangen. Dem Vorsitzkomitee gehörte damals auch SOS-Kinderdorf-Gründer Hermann Gmeiner an.
"Eine Mutter, Geschwister, ein Haus, ein Dorf" - das war der Leitgedanke, mit dem Gmeiner vor mehr als 70 Jahren SOS-Kinderdorf ins Leben rief. In den vergangenen Jahrzehnten seit der Gründung hat sich die Gesellschaft verändert - und mit ihr auch die Anforderungen an SOS-Kinderdorf und seine "Mütter" und "Väter". 

  • MeinBezirk.at: Gibt es das Berufsbild des Kinderdorfvaters analog zur Kinderdorfmutter in der heutigen Zeit noch? 
    Alfred Groß: "Ja, natürlich. Nach wie vor sind wir als Kinderdorf sehr stolz auf unser Angebot der Kinderdorffamilie, um Kindern ein liebevolles Zuhause zu geben. Aktuell haben wir keine Kinderdorfväter, das Berufsbild ist nach wie vor sehr weiblich geprägt. Sehr wohl sind für uns sehr viele männliche Betreuer in anderen Betreuungsformen, z.B. in Wohngruppen tätig. Oft braucht es auch diese größeren, multiprofessionellen Teams, um auf die Bedarfe der Kinder, Jugendlichen und Familien passgenau reagieren zu können."

    SOS-Kinderdorf ist stets auf der Suche nach Pädagogen, die beherzt und engagiert anpacken, Kindern und Jugendlichen das Zuhause geben bzw. den Rahmen ermöglichen, den sie in ihrer Situation brauchen. (Symbolbild) | Foto: Berger
    • SOS-Kinderdorf ist stets auf der Suche nach Pädagogen, die beherzt und engagiert anpacken, Kindern und Jugendlichen das Zuhause geben bzw. den Rahmen ermöglichen, den sie in ihrer Situation brauchen. (Symbolbild)
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  • Wie nehmen Sie die Rolle des männlichen Betreuers in den Kinderdorffamilien und Wohngruppen wahr? 
    "Mir ist wichtig zu betonen, dass das biologische Geschlecht nicht das entscheidende Kriterium dafür ist, wie oder 'wie gut' Personen diesen Job machen. Engagement, Ausbildung, Empathie, Haltung und letztendlich der Zugang zu den Kindern und Jugendlichen sind ja nicht abhängig vom Geschlecht.
    Aber natürlich ist es ein Kriterium, aber da geht es vielleicht weniger um die Rolle, die man aktiv einnimmt, sondern vielmehr um die Rolle, die einem von den Kindern und Jugendlichen auch aufgrund ihrer Vorerfahrungen gegeben wird. Das bietet auch oft die Chance, Stereotypen aufzubrechen, z.B. im Sinn, ich kann als Mann stark sein, aber trotzdem Gefühle zeigen oder Konflikte ohne Machtausübung lösen.
    Niemand strebt die Rolle eines „Ersatzvaters“ an. Man kann auch eine stabile und unterstützende Bezugsperson sein, vielleicht auch nur auf Zeit, ohne dass man jemand anderem eine Rolle streitig machen oder eine 'empfundene' Lücke füllen müsste."

  • Was unterscheidet die Arbeit in den Familien mit den Müttern und Vätern? 
    "Auch hier möchte ich nicht verallgemeinern, die Unterschiede zwischen Eltern als Individuen sind weit entscheidender als dass man es auf das Geschlecht reduzieren sollte. In Wahrheit überwiegen die Gemeinsamkeiten in der Arbeit mit Vätern und Müttern bei weitem die Unterschiede.
    Oft ergeben sich diese eher aus gesellschaftlichen Zuschreibungen oder erlernten Mustern. So holen sich meiner Erfahrung nach Mütter eher Hilfe bzw. sind gewillt, diese anzunehmen, Väter tun sich da oft schwerer und gehen öfter in den Widerstand.
    In Wahrheit geht es aber meist darum, eine gemeinsame Haltung zu entwickeln, um das Beste für die Kinder und Jugendlichen zu erreichen. Und das wollen im Grunde alle Väter und Mütter, oft wissen sie nur nicht wie."

    Wie wichtig ist der Vatertag für dich?
  • Kinder und Jugendliche, die für einen längeren Zeitraum oder überhaupt bis sie 18 Jahre alt sind, im Kinderdorf betreut werden, haben Mütter und Väter, mit denen sie größtenteils in Kontakt stehen - wie erleben Sie hier die Präsenz der Väter? 
    "Grundsätzlich haben Eltern ein Anrecht auf ihre Kinder und Kinder Anrecht auf ihre Väter und Mütter. Wenn es Umstände gibt, dass sie trotzdem nicht gemeinsam leben können, ist es umso wichtiger, diesen Kontakt so gut als möglich zu gestalten. Es gibt ganz viele wahnsinnig engagierte Väter, die ihre Kinder auch während der Fremdunterbringung gut unterstützen und essentieller Teil ihres Lebens bleiben. Natürlich gibt es auch Väter, die keinen Kontakt zu ihren Kindern haben wollen bzw. aufgrund der Vorgeschichte nicht haben dürfen. Hier ist es unser Job, dass sie trotzdem so gut als möglich präsent sind, wenn nicht physisch, dann vielleicht stellvertretend als Gesprächsthema. Eltern bleiben Eltern, egal was war, zumindest für die Kinder."

  • Wie wesentlich ist der Anteil männlicher Betreuung im Kinderdorf? 
    "Unglaublich wesentlich. Der Sozialbereich ist ja bekanntermaßen eher weiblich gefärbt. Ich glaube, es ist nachvollziehbar, dass z.B. Jugendliche in einer Burschen-WG gewisse Themen eher mit Betreuern besprechen wollen, auch wenn sie sich ansonsten gut mit ihren weiblichen Bezugspersonen verstehen und ihnen großes Vertrauen entgegenbringen. Auch in der Elternarbeit fallen manche Gespräche leichter, wenn sie, ganz bewusst so geplant, ein Mann führen kann (so wie es auch oft umgekehrt ist und eine Frau passender erscheint). Das Vermitteln adäquater Geschlechterrollenbilder, oft vielleicht durch den Betreuer als Role-Model, ist oft Thema. Es braucht in Wahrheit überall Männer und Frauen."

    Seine berufliche Tätigkeit übt einen immensen Einfluss auf seine eigene Vaterrolle aus; umso mehr genießt SOS-Kinderdorfleiter Alfred Groß die Zeit mit seinen beiden Söhnen Severin und Valentin.  | Foto: Privat
    • Seine berufliche Tätigkeit übt einen immensen Einfluss auf seine eigene Vaterrolle aus; umso mehr genießt SOS-Kinderdorfleiter Alfred Groß die Zeit mit seinen beiden Söhnen Severin und Valentin.
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  • Wie sehr werden Sie in Ihrer eigenen Vaterrolle von Ihrer Arbeit als SOS-Kinderdorf-Leiter beeinflusst? 
    "Immens. Es ist leider so, dass man oft mit Lebensgeschichten konfrontiert ist, die enorm tragisch sind bzw. den Rahmen des Vorstellbaren sprengen. Viele Kinder, Jugendliche und Familien haben Dinge erlebt, die sie einfach nicht erleben sollten. Einerseits ist man da sehr dankbar, wie man selbst aufwachsen konnte und natürlich bestrebt, die eigenen Kinder von Gefahren und Einflüssen fernzuhalten. Andererseits hat man natürlich großes Verständnis dafür, dass solche Erlebnisse auch Folgen haben und nicht spurlos an einem vorbeigehen, also auch teilweise die Akzeptanz bzw. das Verständnis, dass Menschen aufgrund des Erlebten Verhaltensweisen zeigen, die gesellschaftlich so nicht akzeptiert sind. Angefangen von der derben Sprache bis hin zu Gewalt und Sucht. Dabei muss man auch immer den eigenen Maßstab neu justieren, sprich, nur weil man vieles hört und sieht, es nicht als „normal“ anzusehen. Auch bei den eigenen Kindern."

  • Gibt es eine besondere Erinnerung, die Sie am Vatertag mit Ihrem eigenen Vater verbinden? 
    "Ja. Ich muss immer darüber schmunzeln, wenn ich zurückdenke, wenn ich als Kind meinem Vater am Vatertag Kaffee ans Bett brachte. Mein Vater war sehr groß und schwer, ein wahrer Koloss. Aber auch sehr kitzlig… was wir Kinder natürlich ausgenutzt haben, um ihn aufzuwecken. Ich erzähle meinen Buben immer, dass das ganz Haus gewackelt hat, aber das ist vielleicht ein wenig übertrieben…"

  • Was bedeutet der Vatertag für Sie persönlich?  
    "Es ist für mich ein Tag, an meinen Vater zurück zu denken, der leider zu früh verstorben ist. Ansonsten gibt es bei uns zuhause gar kein großes Aufheben um diesen Tag. Mein kleiner Sohn wollte letztens, wie mir erzählt wurde, keinen Brief an mich für den Vatertag schreiben, weil 'der Papa eh weiß, dass ich ihn lieb habe'. Da hat er recht, er zeigt es mir das ganze Jahr. Aber über den Brief freue ich mich trotzdem…"

Zur Person: Alfred Groß

  • Werdegang: aufgewachsen in der Weststeiermark, Studium der Psychologie, seit 2009 in der Kinder- und Jugendhilfe, Klinischer u. Gesundheitspsychologe, seit 2016 SOS-Kinderdorfleiter in Graz (derzeit auch in Stübing)
  • Kinder: Severin (11), Valentin (9)
  • Hobby: Rennradfahren und Mountainbiken, Basketball, Filme schauen mit den Kindern

  • SOS-Kinderdorf: Zahlen und Fakten

  • Rund 1.700 Kinder und Jugendliche fanden 2021 bei SOS-Kinderdorf ein liebevolles und stabiles Zuhause.
  • Rund 3.000 Kinder, Jugendliche und ihre Familien wurden 2021 regelmäßig beraten und unterstützt.
  • In der Betreuung liegt der Anteil der weiblichen Mitarbeiterinnen österreichweit bei 77 %. Der Anteil männlicher Mitarbeiter liegt bei 23 %.

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