Tun um des Tuns willen
Warum

- hochgeladen von Danijel Okic
Nach ungefähr 15 Kilometern bemerke ich sie: Ermüdung – Beine sind schwer. Und ich bin noch nicht einmal ein Drittel meiner geplanten Strecke gelaufen. Gedanken: Wie soll ich bloß …? Was, wenn ich …? Warum habe ich…? Warum habe ich nicht …? Hätte ich doch … Mein Kopf rebelliert, Zweifel überschlagen sich nacheinander. Plötzlich fällt mir Nietzsche ein: Amor Fati – liebe es: Alles.
Rückblende: Als ich es mir gestern am Abend versprochen habe, hat sich alles noch machbar angefühlt. Ach, was ist schon ein Marathon?, sagte ich mir beim nächtlichen Spaziergang. Werde vorher sowieso etwas frühstücken, dann mehr Energie haben, fügte ich hinzu. Eine mit gelösten Aminosäuren und schnellen Kohlenhydraten befüllte Flasche werde ich mir für das letzte Drittel zudem auch vorbereiten, beendete ich den Monolog. Alles hätte anders laufen sollen.
Zurück im Moment: Jetzt spüre ich auch ihn – Durst. Laufe nun seit über zwei Stunden, habe seit Start nichts getrunken. Mein nächstes Ziel lautet folglich Ladestation, bei meiner Wohnung. Werde schließlich noch geschätzte 30 Kilometer laufen. Will zumindest einen Marathon beenden, wenn ich mich schon zu keinem Ultra überwinden kann. Besser: Wenn ich mich schon nicht zu überwinden gewillt bin. Muss bei der Wahrheit bleiben: Rein körperlich habe ich bis auf meine ziehenden Waden – so bemerke ich – keine Probleme. Mein Kopf allerdings rebelliert weiter.
Gedanken: Der Durst verdrängt sie nach und nach, stellt sich bald als Segen heraus. Denn auch ihn höre ich dadurch nicht mehr, kann mich somit zur Gänze in den Augenblick fallen lassen. Laufe immer – wenn sich mir eine Gelegenheit bietet – bewusst bergauf, will mich überwinden, zudem zählt jeder Meter. Weiß noch immer nicht, ob ich nach dem Marathon weiterlaufen werde, weniger wird es jedoch definitiv nicht, nehme mir die Option weg.
Ladestation: Endlich erreiche ich meine Wohnung. Kurze Pause: Trinke die Aminosäuren- und Kohlenhydrate-Flasche mit einem großen Schluck aus, spüle mit etwas Wasser nach. Bin leerer gewesen, als ich gedacht habe. Meine Gedanken werden wieder klarer. Und ich bin bereits gut die Hälfte der von mir geplanten Distanz gelaufen. Hoffnung: Sie steigt mit der mittlerweile lichterloh brennenden Sonne über uns Richtung Himmel auf. Vielleicht werde ich es ja doch schaffen? Laufe weiter.
Erfahrungen: Ich mache viele davon im Zuge der folgenden Kilometer, Gedanken kreisen wie eine Achterbahn in meinem Kopf, Schmerzen im Körper treten auf und gehen wieder. Bei all dem verliere ich aber nie mein Ziel aus den Augen. Und ich laufe – noch immer wann es mir möglich ist – die extra Meter bergauf, nehme keine Abkürzungen. Der Prozess ist das Resultat, rufe ich mir immer wieder zu. Dieses Mal erleichtert mir der Spruch das Erlebnis jedoch nur marginal.
Irgendwann am Weg – bin mittlerweile erschöpft und muss aufpassen nicht zu stolpern oder in ein fahrendes Auto zu laufen – begegne ich ihr, ihm: meinem Warum– Frau im Rollstuhl: Hallo, sage ich im durch meine Anstrengung bedingten freundlichsten mir möglichen Ton. „Hallo.“, antwortet sie erkenntlich lächelnd. An ihren strahlenden Augen erkenne ich, dass ich gerade einen Unterschied für sie gemacht habe. Sie jedoch hat einen noch viel größeren solchen für mich gemacht. Jetzt fällt mir alles wieder ein.
Mein Warum: Weil ich es kann. Ich bin zehn Jahre nach meinem Unfall in der Lage Marathon nach Marathon zu laufen. Ich tue es aber nicht nur für mich. Ich tue es genauso für all jene Menschen, die es gerne tun würden, aber aufgrund von Krankheiten, Behinderungen oder Unfallfolgen nicht können. Nicht für dich Fatima, sage ich gleichzeitig leise zu einer von Kopf bis Fuß vermummten übergewichtigen Frau, an der ich schnaufend vorbeilaufe. Ich schmunzle.
Auch nehme ich während des Laufes nach einem Jahrzehnt wieder bewusst meine rechte Seite – mein fehlendes Gesichtsfeld – wahr. Das mich anstrahlende Sonnenlicht leitet meinen Blick automatisch in seine Richtung, sehe plötzlich, was ich alles in den letzten zehn Jahren verpasst habe. Was da wohl mit neuen Therapieansätzen alles möglich ist?, frage ich mich – die Hoffnung hegend irgendwann wieder alleine mit einem Auto fahren zu können.
Fokus: Ich erreiche weit nach der zweiten Runde wieder meine Wohnung – beschließe dann, wieder kurz bei dieser zu stoppen und etwas zu trinken, dann eine Entscheidung zu treffen. Bin kaum in der Lage mehr meine Beine zu heben, jedoch gewillt weiterzukämpfen.
Unfall, Nahtod, Leben – Ich feiere mit diesem Lauf heute das Sein, mein Sein. Wer hätte es vor zehn Jahren gedacht? Damals hing laut Ärzten mein Überleben am seidenen Faden, heute laufe ich Marathons. Und plötzlich fühle ich es – sie – wie vor zehn Jahren. Ich will nicht mehr. Dafür bin ich die letzten 50 Kilometer gelaufen.
Vergangenheit: Auch damals fühlte ich sie – Müdigkeit. Ähnlich wie jetzt – nach knappen sieben Stunden des Laufens – war ich damals müde und wollte nur noch aufhören, es in die Umkleidekabine schaffen, mich dann schlafen legen.
Gegenwart: Es ist genug, sage ich mir, auch auf die Möglichkeit hin die 52 Kilometer heute nicht zu erreichen. Bin mittlerweile im Reinen mit meinem Selbst, bin mein einziger Vergleich. Was andere tun ist mir von heute an egal.
Ziel: Sehe meine Straße, laufe – nach einer nochmaligen Ehrenrunde – schließlich in diese ein, schalte vor meiner Wohnung in den Gangmodus um, dann bleibe ich stehen. Nehme meine Mütze ab, trinke einen großen Schluck Wasser, gehe weiter. Sehe auf meine Uhr: 52 Kilometer. Wow. Ich habe es tatsächlich geschafft. Freude wird fühlbar. Stolz klopft an. Und letztendlich macht sich Dankbarkeit bemerkbar: Ich bin dankbar für die letzten zehn Jahre. Ich bin dankbar dafür noch hier – am Leben – zu sein. Und ich liebe es – alles.
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